Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
»Ach, wie ärgerlich!«
»Ist alles in Ordnung?«
Die Frau seufzte. »Ja, aber es wäre noch besser, wenn Mrs Howe den Trachtenhut mit Feder bezahlt hätte, den sie bestellt hat. Sie sagte, sie bräuchte ihn für eine Gesellschaft in Brightwell Court, aber das Fest ist schon heute Abend, und sie hat immer noch niemanden vorbei geschickt, um den Hut abzuholen. Die Chancen, dieses Stück Tand aus London hier im Ort an jemand anderes zu verkaufen, stehen schlecht.«
»Das tut mir leid«, murmelte Olivia, aber ihre Gedanken blieben an etwas anderes hängen, das Miss Ludlow erwähnt hatte. »In Brightwell Court?«, wiederholte sie. Sie erinnerte sich an den Namen Brightwell aus dem Zeitungsausschnitt ihrer Mutter.
»Ja. Ist Ihnen der Name bekannt? Es ist das größte Anwesen der Gegend, abgesehen von dem der Lintons. Und heute Abend gibt es dort eine Gesellschaft.« Sie zwinkerte Olivia zu. »Aber leider hab ich meine Einladung verlegt.«
Olivia grinste über ihren Scherz. »Genau wie ich.«
Mit dem Versprechen, ihre neue Bekannte nach Möglichkeit wieder zu besuchen, dankte Olivia ihr noch einmal und verließ den Laden.
Es fing bereits an zu dämmern. In diesen letzten Monaten des Jahres waren die Stunden des Tageslichts nur kurz. Der Wind zog an Olivias Umhang und sie fröstelte. Es war wirklich zu kalt und zu dunkel, um den Weg fortzusetzen. Zumindest zu Fuß.
Sie folgte der Hauptstraße, als sie eine nördliche Biegung machte, und kam am Dorfplatz vorbei. Auf dessen anderer Seite sah sie eine imposante Kirche und nahm an, dies müsste St. Mary’s sein. Einige vornehme Kutschen fuhren an ihr vorbei und ein Kutscher hielt an und fragte sie, ob er sie mitnehmen könne.
»Fahren Sie nach St. Aldwyns?«, fragte sie hoffnungsvoll.
Er schüttelte den Kopf. »Sind Sie denn nicht unterwegs zu Brightwell Court wie alle anderen feinen Damen der Gegend? Heute Abend ist dort mächtig viel geboten.«
Brightwell … Wieder begegnete ihr der Name.
Olivia schüttelte den Kopf. »Trotzdem vielen Dank.«
Sie blieb stehen, während der Wagen an ihr vorbeifuhr, und sah ihm nach, wie er in ein Tor einbog und einer langen, von Fackeln erhellten Zufahrt folgte. Besaß ihre Mutter eine Verbindung zu diesem Ort? Olivia spürte den Drang, dieses Brightwell Court mit eigenen Augen zu sehen. Danach würde sie den direkten Weg zum Pfarrhaus einschlagen.
Olivia schritt durch das Tor und die gekieste Straße entlang, an einigen kleinen Nebengebäuden vorbei, und da war es plötzlich. Ein großes graues Herrenhaus im Tudorstil in der Form eines E mit zahlreichen spitzen Dächern.
Hatte ihre Mutter hier Freunde? War sie hier einmal zu Besuch gewesen oder hatte eine Stellung innegehabt? Olivia würde ganz bestimmt nicht an die Tür klopfen und danach fragen, zumal die Besitzer gerade Gäste hatten.
Sie wandte sich zum Gehen, als die schwungvolle, fröhliche Musik ihre Aufmerksamkeit weckte. Sie wirbelte ihr in den Ohren und dehnte sich in ihrer Brust aus. Olivia bewegte sich vorsichtig über den Rasen, angezogen vom Licht, das aus den großen, längs unterteilten Fenstern fiel. Als sie sich näherte, hatte sie den ersten guten Blick in einen der prächtigen Räume. Anmutige Frauen in edlen Gewändern und vornehme Herren in schwarzer Abendkleidung standen in Gruppen zusammen, redeten, lachten, verbeugten sich, aßen und tranken. Olivia seufzte unwillkürlich.
Gebannt ging sie langsam am ersten Flügel vorbei und konnte einen Blick auf ein Büfett werfen, das von einem lebensgroßen Schwan aus Eis geziert wurde. Es gab hoch aufgetürmte Gefäße mit Gelee, gefülltes Wildschwein und eine riesige goldene Schale, die von Früchten überquoll. Olivia spazierte am zurückgesetzten Innenhof der kürzeren Mitte des E vorbei und umrundete den letzten Flügel, und die ganze Zeit über starrte sie in jedes Fenster, als hätte sie ein lebendiges, von hundert Kerzen erleuchtetes Bild vor sich. An der Ecke des Herrenhauses passierte sie ein weiteres Fenster, das geöffnet war, um den Zigarrenrauch oder die Hitze der Menge nach draußen zu leiten, wie sie vermutete. Olivias Schritt stockte. In dem Raum, der eine Bibliothek zu sein schien, umarmte ein eleganter Herr mittleren Alters seine ebenfalls mittelalte Frau. Sie waren allein. Der Mann drückte einen Kuss in ihr Haar, strich ihr über den Rücken und murmelte ihr etwas Bestätigendes oder Ermutigendes ins Ohr. Die sanfte Zärtlichkeit traf Olivia mitten ins Herz. Sie wusste, dass sie sich
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