Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
Frage haben, wird sie damit zu mir kommen.«
»Wie wird sie fragen, wenn sie nicht sprechen kann?«, wollte der schwerfällige Butler am unteren Ende des Tisches wissen.
»Sie kann lesen und schreiben, Mr Hodges, so wurde es mir zumindest mitgeteilt.« Die Zweifel der Haushälterin klangen deutlich heraus und Olivia spürte, wie ihre Ohren wieder zu brennen begannen.
Mit einer kurzen Bewegung aus dem Handgelenk deutete Mrs Hinkley nacheinander auf jeden der Anwesenden und ratterte eine kurze Bestandsaufnahme der versammelten Dienerschaft herunter. Zu Mrs Hinkleys Linken saß eine hübsche Zofe, Miss Dubois. Mrs Moore, die rundliche Köchin, stellte eine Servierplatte mit Würstchen auf den Tisch und nahm dann ihren Platz rechts von Mrs Hinkley ein. Neben ihr saßen Doris und Martha, die beiden Hausmädchen, und die Küchenhilfen Edith und Sukey. Am anderen Ende des Tisches nickte Mr Hodges ihr knapp zu. Die männlichen Dienstboten saßen um ihn herum gruppiert beieinander – der Kutscher und der Laufbursche, dessen Namen sie nicht richtig hörte; Osborn, der hochnäsige livrierte Lakai, der gerade von den Räumen der Herrschaft kam, und der Stallknecht mit den kastanienbraunen Haaren, der sie schüchtern anlächelte.
Olivia zweifelte, dass sie alle Namen behalten würde, aber Miss Peale hatte sie bereits informiert, dass keine Notwendigkeit bestehe, sich mit dem Personal anzufreunden. Außer an Feiertagen oder wenn die Kinder mit der Familie speisten, würde Olivia ihre Mahlzeiten im Kinderzimmer einnehmen, nur in Gesellschaft von Miss Peale, dem Dienstmädchen Becky und den Kindern.
Olivia versuchte, in die allgemeine Runde zu lächeln, aber ihr Gesicht fühlte sich wie erstarrt an und sie war sich fast sicher, dass sie nur ein leichtes Zittern der Lippen zustande brachte. Mrs Hinkley setzte sich und alle neigten die Köpfe, während Mr Hodges ein Gebet sprach. Olivia wurde nicht weiter beachtet.
»Gestern Abend bin ich dem neuen zweiten Kindermädchen begegnet«, verkündete Edwards Cousine Judith, als sie die Bibliothek betrat. »Hast du sie schon gesehen?«
Edward war sofort auf der Hut. »Ja.« Er schob die Notiz, die sein Leben verändert hatte, unter die Zigarrenschachtel auf dem Schreibtisch seines Vaters.
»Höchst ungewöhnlich, findest du nicht? Dass Mrs Hinkley so ein Mädchen anstellen sollte, meine ich.« Judith nagte an ihrer vollen Unterlippe. »Irgendetwas stimmt da nicht.«
Seine Muskeln spannten sich an und sein Pulsschlag ging in die Höhe. Er fragte sich, was Judith gehört hatte oder vermutete, fragte aber nur: »Was willst du damit andeuten?«
»Nur, dass mehr dahinterstecken muss.« Diese Vorstellung schien ihr Vergnügen zu bereiten.
»Ich verstehe nicht.« Er runzelte die Stirn. »Meinst du, weil sie nicht sprechen kann?«
»Natürlich. Was dachtest du, was ich meine?«
Er ging nicht darauf ein. »Hast du Bedenken, die Kinder in ihre Obhut zu geben?«
»Ganz und gar nicht.« Gedankenverloren starrte sie an einen Punkt über seinem Kopf. »Aber es ist interessant, oder nicht? Sie war noch nie in Stellung. Sie spricht kein Wort.« Sie richtete ihren Blick auf ihn. »Wer hat ihr Leumundszeugnis geschrieben, weißt du das?«
»Nein, das weiß ich nicht.« Er zögerte. »Ich wundere mich über dich, Judith. Du hast dich noch nie zuvor für die Dienstboten interessiert.«
»Und du hast noch nie eine Stumme in Dienst genommen, oder?« Ihre runden blauen Augen leuchteten plötzlich auf. »Vielleicht ist sie überhaupt nicht stumm, sondern macht uns etwas vor.«
Dies weckte sein Interesse, obwohl er versuchte, es nicht zu zeigen.
»Was wäre, wenn sie nur vortäuschen würde, stumm oder taub zu sein oder wie auch immer das heißt, damit sie ihr Geheimnis nicht verraten muss? Sie könnte die Tochter eines mächtigen Lords sein, der sich vorgenommen hat, sie in eine arrangierte Ehe zu zwingen.«
»Solche Ehen sind nicht mehr erlaubt, Judith. Wie du sehr gut weißt.«
»Und wenn schon! Väter können immer noch sehr viel Druck ausüben – das weiß ich auf jeden Fall.«
»Na gut. Aber warum haben wir sie dann nie in London gesehen, wenn sie adelig ist?«
Judith schürzte die Lippen. »Vielleicht war sie im Turm eingesperrt? Oder … jetzt weiß ich es! Sie spricht kein Englisch!«
Er lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Ich habe gesehen, dass sie einwandfreies Englisch schreibt und sie versteht jedes Wort, das man zu ihr sagt.«
Judith ließ einen Finger über den
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