Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
dass er mehr hören wollte. Aber warum? , fragte sich Olivia.
»Sprechen Sie weiter.«
Aber Tränen waren ihr in die Augen gestiegen und sie biss sich auf die Lippe, um sie zurückzuhalten.
Der Earl sagte leise: »Sie vermissen sie.«
»Ja, sehr«, flüsterte Olivia.
»Und was ist mit Ihrem Vater?«
Sie schluckte und senkte den Blick. »Er ist auf seine eigene Art schlau. Kann gut mit Zahlen umgehen. Er ist ehrgeizig, direkt.«
»Aber?«, hakte er nach.
Sie holte bebend Luft. »Er ist … wechselhaft. Oft wütend.«
»Misshandelt er Sie, meine Liebe?«
»Nein, niemals.«
»Und Ihre Mutter?«
Sie schaute auf ihre Hände herab. »Er greift sie manchmal mit verletzenden Worten an – mit Vorwürfen und Drohungen. Aber er ist niemals tätlich geworden, bis …«
»Bis?«
Sie wich seinem ernsthaften Blick aus und wechselte das Thema. »Er war nicht immer so. Aber jetzt … ich fürchte, jetzt gibt es nicht mehr viel Herzlichkeit zwischen uns.«
»Es tut mir leid, das zu hören.«
»Trotzdem hatte ich nie die Absicht –« Sie unterbrach sich.
»Was für eine Absicht hatten Sie nie, Miss Keene?«
Sie sah das Mitgefühl in seinen Augen und war versucht, ihm die ganze Geschichte zu erzählen. »Das ist nicht so wichtig.«
Er reichte ihr sein Taschentuch. »Bitte vergeben Sie mir, Miss Keene. Ich wollte Sie nicht aus dem Gleichgewicht bringen.«
»Es gibt nichts zu vergeben«, sagte sie und wischte sich die Augen. »Sie sind derjenige, der den größten Verlust erlitten hat.«
Tränen glänzten in seinen Augen. »Ja, es ist ein großer Verlust. Meine Frau hat mir sehr viel bedeutet. Aber es gab eine Zeit, in der auch zwischen uns nicht viel Herzlichkeit bestand.«
»Das kann ich kaum glauben«, erwiderte Olivia.
»Es ist wahr, aber ich vertraue Ihnen das nur an, um Ihnen Hoffnung zu machen. Vielleicht taut Ihr Vater eines Tages Ihnen gegenüber wieder auf, Miss – Darf ich nach Ihrem Vornamen fragen? Ich bin ziemlich sicher, dass Edward ihn mir nicht genannt hat.«
»Mein Name ist Olivia, aber die meisten Leute hier nennen mich –«
»Olivia?«, wiederholte er atemlos und sichtbar benommen.
»Ich weiß. Für ein Mädchen in Stellung ist das vermutlich ein sehr hochtrabender Name.«
»Olivia …«, wiederholte er noch einmal. In seinen Augen standen gleichzeitig Triumph und Qual. »Ihre Mutter, sie …« Er stockte. »Ist Ihr Name … Dorothea Hawthorn?«
Olivia starrte ihn stumm an. »Nein.« Langsam schüttelte sie den Kopf. »Sie heißt Dorothea Keene.«
Sie starrten sich gegenseitig in die Augen, bis Olivia flüsterte: »Woher kennen Sie meine Mutter?«
Er schüttelte verwundert den Kopf. »Ich dachte, es müsste so sein, als ich Sie das erste Mal sah. Ich meinte, ein Gespenst zu sehen. Oder einen Engel. Dorotheas Tochter. Ich kann es kaum glauben. Wie geht es ihr? Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?«
»Vor ungefähr zwei Monaten.«
Er nickte. »Haben Sie unter dem Dach Ihrer Eltern gelebt, bevor Sie hierher kamen oder hatten Sie woanders eine Anstellung?«
»Ich hatte eine Stelle, aber ich lebte zu Hause.«
»Darf ich dann fragen, warum Sie weggegangen sind? Ist etwas passiert oder sind Sie nur hergekommen, um eine Anstellung zu suchen?«
Sie zögerte. »Ich … ich kann Ihnen das nicht sagen, Mylord. Bitte verzeihen Sie mir.«
Er machte ein besorgtes Gesicht. »Aber … es geht ihr gut, hoffe ich?«
Erneut brannten Tränen in ihren Augen. Ihr Flüstern war so heiser wie zu dem Zeitpunkt, als ihre Stimme zurückgekehrt war. »Ich weiß es nicht.«
»Möchten Sie nach Hause gehen? Edward würde es erlauben, wenn ich –«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht nach Hause gehen.« Bedacht darauf, dem Gespräch eine andere Richtung zu geben, fragte sie noch einmal: »Wie kommt es, dass Sie mit meiner Mutter bekannt sind? Das haben Sie mir nicht gesagt.«
»Wissen Sie das nicht?« Lord Brightwells helle Augen funkelten. »Sie hatte hier auch eine Anstellung.«
Olivia schüttelte den Kopf.
»Dorothea war die Gouvernante meiner Halbschwestern, die beide viel jünger sind als ich. Sie war genau so, wie Sie sie beschrieben haben – liebenswert, freundlich, klug.« Es schien, als wolle er etwas hinzufügen, doch dann hielt er inne.
»Ich würde mich gern noch weiter mit Ihnen unterhalten. Aber … angesichts der unglücklichen Umstände sollte dieses Gespräch vielleicht lieber warten.«
Olivia dachte an die bevorstehende Beerdigung und bekundete ihre Zustimmung mit einem
Weitere Kostenlose Bücher