Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
sehnte sich nach einer Badewanne und einem Kamm. Es nützt nichts, sich jetzt darüber zu grämen , sagte sie sich. Wenn ich mich nicht in Bewegung setze, werden die Bäume ohnehin die Einzigen sein, die mich zu Gesicht bekommen.
Wieder suchte sich Olivia ihren Weg zwischen den Bäumen und durch das Unterholz hindurch. Sie fragte sich, ob die Schulleiterin, die Bekannte ihrer Mutter, wirklich eine Fremde aufnehmen würde und was sie tun sollte, falls die Frau das ablehnte. Olivia biss sich auf die Innenseite der Wange, um Selbstmitleid und Tränen abzuwehren. Mit einem geflüsterten kurzen Gebet für ihre Mutter ging sie weiter, während ihr Atem in der kalten Morgenluft aufstieg.
Der Wald lichtete sich, als die Sonne höher in den Himmel stieg, und auch ihre Stimmung hob sich. Sie sah das Band einer Straße vor sich und beschloss, ihr zu folgen. Wenn nötig, könnte sie jederzeit in den Schutz des Waldes zurückkehren.
Sie wanderte einige Minuten die Straße entlang und nahm dann das Angebot eines Bauern an, hinten auf seinem Wagen ein Stück mitzufahren. Seine Frau beäugte misstrauisch den Stock in ihrer Hand, äußerte sich aber nicht dazu.
Nach vielen holprigen, ruckelnden Kilometern rief der Bauer seinem Gaul schließlich »Brr!« zu und drehte sich mit einem Lächeln zu Olivia um. »Dort am Ende des Wegs liegt unser Hof, also können wir Sie nur bis hierhin mitnehmen.«
Olivia dankte dem Paar, kletterte steif aus dem Wagen und fragte, wie sie nach St. Aldwyns kommen könnte.
»Folgen Sie dem Fluss dort«, erklärte der Bauer und wies ihr die Richtung. »Das wird für Sie schneller sein, auch wenn Sie dann keinen Wagen mehr treffen.«
Olivia ging am Fluss entlang, der sich durch ein hügeliges Tal zog, eine kleine Ansiedlung passierte und dann eine weitere. Kurz darauf verschwand der Fluss in einem Wäldchen. Nicht schon wieder ein Wald … jammerte Olivia innerlich. Sie wollte jedoch ihren Weg nicht verlieren, deshalb holte sie tief Luft und betrat das Gehölz.
Die Bäume standen nicht sehr dicht und dahinter sah sie schon wieder das offene Feld. Nachdem sie am Abend vorher für ihren Geschmack genug Bäume gesehen hatte, beschleunigte sie ihre Schritte.
Da hörte sie ein Geräusch und blieb erschrocken stehen. Sie lauschte über ihr pochendes Herz hinweg und da war es wieder: Gebell. Ihr Magen zog sich ängstlich zusammen. Schon wieder Wildhunde? Sie näherten sich schnell! Unwillkürlich fing Olivia an zu rennen und der Stock schlug ihr dabei gegen das Bein. Mit ihrer freien Hand raffte sie ihre Röcke und stürmte aufs Feld hinaus. Ohne auf das heftige Brennen in ihrer Seite zu achten, rannte sie weiter. Sie traute sich nicht, anzuhalten und einen Blick hinter sich zu werfen. Ein weiteres Geräusch gesellte sich zu dem Bellen – ein gedämpftes Grollen, das stetig lauter wurde. War das Donner? Oder ein Suchtrupp?
Die Hunde kamen näher, sie konnte ihr Kläffen jetzt deutlich hören, sie hatten sie fast erreicht. Panik erfasste Olivia. Etwas zog an ihrem Rock, und sie wirbelte herum, schwang den Stock und schrie aus Leibeskräften.
»Haut ab! Weg mit euch!« Die bellenden Hunde flitzten um sie herum und sprangen hoch. Sie erwischte einen am Rumpf, der daraufhin aufjaulte und davonjagte.
Langsam gewann sie einen klareren Blick für das verschwommene Durcheinander von geflecktem Fell, und sie merkte, dass dies keine Wildhunde waren. Donnernd näherten sich Pferdehufe. Benommen schaute sie hoch, als eine Armee roter Jacken und schwarzer Hüte – Männer in Jagdkleidung – von allen Seiten auf sie zupreschte.
»Aus dem Weg!«, rief einer der Reiter, während sein Rotschimmel bedrohlich nah an ihr vorbei galoppierte.
Olivia sprang zur Seite. Im nächsten Moment schrie sie auf und hob die Arme schützend über den Kopf – denn sie war direkt in den Weg eines anderen heranpreschenden Pferdes gesprungen. Dessen Reiter riss die Zügel zurück, das schwarze Pferd schwankte und bäumte sich auf. Die hochgeschleuderte Erde spritzte in Olivias Gesicht. Die Pferdehufe zuckten dicht vor ihrem Kinn vorbei und trafen donnernd auf dem Boden neben ihr auf.
»Was in aller Welt fällt dir ein?«, brüllte der Reiter des Rappen wütend. »Bist du von allen guten Geistern verlassen?«
Die anderen Reiter – Piköre und Gentlemen auf weißen, grauen und kastanienbraunen Jagdpferden – umringten Olivia mit ärgerlich erhobenen Stimmen.
»Du hast eine hervorragende Jagd verdorben!« Dieser Ausruf kam von einem
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