Das Schweigen der Schwaene
die Schafe. Manchmal vergisst er Dinge, aber nach den Schafen zu sehen, vergisst er nie.« Jeans stolzes Lächeln führte dazu, dass sich die Fältchen um seine dunklen Augen herum vertieften. »Er hat sehr schnell gelernt.«
»Darf ich zu ihm gehen? « fragte Nell.
Jean nickte. »Es ist sowieso Zeit, dass er zum Essen kommt.
Sagen Sie ihm, dass er die Hunde zur Bewachung der Herde abstellen und rüberkommen soll.«
Nell gab Tanek die Zügel ihres Pferdes und machte sich auf den Weg um die riesige Herde herum. Als sie sich den Tieren näherte, rümpfte sie die Nase. Schafe in der Herde waren eindeutig weder wohlriechend noch duftig weiß. Soviel also zur Mär vom flauschigen Osterlamm.
»Sind sie nicht hübsch? « fragte Peter, als sie in Hörweite kam.
»Mögen Sie sie etwa nicht? «
»Nun, auf alle Fälle magst du sie wohl.« Sie umarmte ihn und trat einen Schritt zurück, um ihn anzusehen.
Er war nicht so braun wie Jean, aber er wies eine wesentlich gesündere Gesichtsfarbe auf als zuvor. Er hatte einen abgetragenen Wollponcho, Stiefel und Lederhandschuhe an.
Seine Augen blitzten, und er strahlte über das ganze Gesicht.
»Ich brauche wohl kaum zu fragen, wie es dir geht.«
Er zeigte auf einen schwarzweißen Collie, der ein verirrtes Lamm umrundete. »Das ist Jonti. Er hütet die Schafe, genau wie ich. Wenn wir nicht auf Wache sind, schlafen wir nachts immer zusammen.«
»Wie schön.« Kein Wunder, dass er nach Schafen und Hunden roch. Aber das war egal. Nichts war wichtig, außer der Tatsache, der er glücklich und stolz auf sich war.
»Und Jean sagt, wenn Jontis Frau Welpen bekommt, kriege ich einen, und er zeigt mir, wie man einen richtigen Hütehund draus macht.«
Das Ganze klang beunruhigend dauerhaft. »Dauert so etwas nicht ziemlich lange? «
Sein Lächeln schwand. »Sie denken, dass ich vielleicht wieder gehen muss.« Er schüttelte den Kopf. »Ich gehe nie wieder fort von hier. Jean will auch nicht, dass ich gehe. Er sagt, dass ich ein guter Schäfer bin.« Und mit einfachen Worten fügte er hinzu: »Er sagt, dass ich hierher gehören kann.«
Hinter ihren Augen stiegen Tränen auf. »Das ist ja wunderbar.«
Sie räusperte sich. »Jean sagt, dass du die Hunde auf die Schafe ansetzen und zum Essen kommen sollst.«
Peter nickte und rief mit strenger Stimme: »Aufgepasst, Bess.
Aufgepasst, Jonti.« Dann machte er kehrt und folgte ihr. »Ist es hier nicht wunderschön? Sie sollten das Hochland sehen. Es ist ganz grün und weich, und man blickt auf und sieht die Berge direkt über sich, und man kriegt ein bisschen Angst, aber nicht richtig, und...«
»Er ist glücklich.« Nell nippte an ihrem Kaffee und blickte über die flackernden Flammen in Richtung vo
n Peter, der ihnen
gegenüber neben Jean am Lagerfeuer saß. Jean zeigte Peter, wie man schnitzte, und Peter runzelte konzentriert die Stirn. »Ich habe den Eindruck, dass er auf Wolken schwebt.«
»Ja.« Taneks Augen folgten ihrem Blick. »Schön.«
»Er will bleiben.«
»Dann soll er das tun.«
»Vielen Dank.«
»Wofür? Schließlich verdient er es sich, hier daheim zu sein.
Das Leben als Schäfer ist alles andere als leicht. Es besteht aus Einsamkeit, harter Arbeit, Sonne und Schnee. Ich habe es selbst mal eine Saison lang ausprobiert.«
»Warum?«
»Ich dachte, dadurch fände ich ein echtes Zuhause hier.«
»Und, war es so? «
»Es hat geholfen.«
»Ein Zuhause, etwas, was Ihnen gehört, scheint Ihnen sehr wichtig zu sein.«
Er nickte. »Als Kind hatte ich nichts außer den Kleidern, die ich am Leibe trug, und ich wollte alles haben, was ich sah. Ich nehme an, dieses Bedürfnis hat sich immer noch nicht gelegt.«
Sie lächelte. »O nein.«
»Aber zumindest haben sich meine Ansprüche geändert.« Er stocherte mit einem Stock im Feuer herum. »Und heute bezahle ich für die Dinge, die ich haben will.«
Sie blickte zu den Bergen auf. »Sie lieben diesen Ort.«
»Seit dem Augenblick, in dem ich ihn zum ersten Mal gesehen habe. So etwas gibt's.«
»Peter geht es ebenso. Er sagt, dass er hierher gehört.« Sie blickte den Jungen an. »Und ich glaube ihm. Er wirkt irgendwie... ganz.«
»Ganz? «
»Vollendet.«
Da Tanek sie immer noch fragend ansah, suchte sie nach einem Vergleich. »Er ist kein hässliches Entlein mehr.«
»Er ist ein bisschen brauner, aber ich finde immer noch nicht, dass er eine Schönheit ist.«
»Das habe ich nicht gemeint. Als ich ein kleines Mädchen war, hat meine Großmutter mir erzählt,
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