Das Schweigen der Schwaene
unterzog.
Dabei war Tania niemals kühl, dachte Nell. Aber wahrsche inlich hatte sie nun genug von ihr.
Sie hätte nicht erwartet, daß sie zu einem derartigen Verlustgefühl in der Lage war.
Zurück in Woodsdale betrat Tania Nells Zimmer, schlug die Bettdecke zurück und wandte sich dann an Phil. »Ich bin vollkommen ausgetrocknet. Könnten Sie uns vielleicht einen Krug Limonade besorgen? Währenddessen stecke ich Nell schon mal ins Bett.«
Phil nickte. »Na klar.«
Sobald die Tür hinter ihm ins Schloß gefallen war, wirbelte Tania zu Nell herum. »Ich hoffe, Sie lügen mich nie wieder an.«
»Ich habe nicht gelogen.«
»Sie haben mich getäuscht, was dasselbe ist.«
»Ich nehme an, Sie haben recht. Ich hatte etwas zu erledigen, und ich hatte Angst, Sie wären vielleicht nicht einverstanden.«
»Da haben Sie verdammt recht, ich wäre bestimmt nicht einverstanden gewesen. Joel wollte Sie gar nicht erst aus der Klinik lassen, und ich habe ihn überredet zu erlauben, daß wir einkaufen gehen. Sie haben mich benutzt.«
»Ja.«
»Warum? Was ist so wichtig, daß Sie deshalb lügen müssen? «
»Ich brauchte ein paar wichtige Informationen, und da Ta nek sie mir nicht gegeben hat, habe ich sie mir in der Bücherei besorgt.«
»Und das konnten Sie mir nicht erzählen? «
»Sie sind eine Freundin von Tanek.«
»Das heißt noch lange nicht, daß ich in allen Dingen auf seiner Seite bin. Ist Ihnen vielleicht noch nie der Gedanke gekommen, daß ich auch Ihre Freundin bin? «
Nell riss die Augen auf. »Nein«, flüsterte sie.
»Nun, so ist es aber. Das erste Mal bin ich zu Ihnen gekommen, weil Nicholas mich darum gebeten hatte, aber danach bin ich gekommen, weil ich Sie mag.«
Sie ballte die Fäuste. »Ich weiß, warum Nicholas wollte, daß ich mich um Sie kümmere. Er dachte, daß Sie mich brauchen. Wir haben beide schreckliche Verluste erlitten, und er wollte, daß ich Ihnen zeige, wie gut ein solcher seelischer Schaden verheilen kann. Nun, mein Schaden ist nicht verheilt. Er wird niemals heilen, aber ich habe gelernt, damit zurechtzukommen. Das werden Sie auch.«
»Ich komme damit zurecht.«
»Nein, Nicholas hat Ihnen eine Karotte hingehalten, und wie ein Esel laufen Sie hinterher. Aber das ist nur ein Ersatz für das wahre Leben. Wenn Sie keine Alpträume mehr haben, dann haben Sie es geschafft, dann kommen Sie damit zurecht.« Als sie Nells überraschte Miene sah, lächelte sie verzerrt. »Meinen Sie etwa, Sie wären die einzige, die jemals von Alpträumen geplagt worden ist? Nachdem meine Mutter und mein Bruder gestorben waren, bin ich ein Jahr lang jede Nacht schweißgebadet aufgewacht. Und auch jetzt habe ich sie manchmal noch.« Sie machte eine Pause. »Aber ich rede nicht darüber.«
»Noch nicht einmal mit Joel? «
»Joel würde mir zuhören, und er würde versuchen, mir zu helfen, aber verstehen würde er mich nicht. Er hat so etwas nie erlebt.« Sie sah Nell an. »Aber Sie haben so etwas erlebt. Sie könnten mich verstehen. Ich brauche jemanden, der mich versteht. Ich bin zu Ihnen gekommen, weil ich Sie brauche, nicht, weil Sie mich brauchen.«
Sie sagte die Wahrheit, und mit einem Mal wurde Nell von Verzweiflung gepackt. Unwillkürlich wechselte sie zum vertrauten Du. »Ich kann dir nicht helfen. Siehst du das denn nicht? Ich habe nichts mehr, was ich einem anderen Menschen geben kann.«
»Doch. Langsam fängst du schon wieder zu leben an«, sagte Tania. »Aber das passiert nicht über Nacht. Es kommt und geht.« Sie lächelte schwach. »Es hat dir nicht gefallen, als ich wütend auf dich war. Das ist ein gutes Zeichen.«
»Aber ich würde es wieder tun, wenn ich dächte, daß es nötig ist.«
»Weil du den Mann finden willst, der deine Tochter ermordet hat.«
»Ich muss ihn finden. Alles andere ist bedeutungslos.«
»Es gibt noch andere wichtige Dinge in deinem Leben, auch wenn du das im Augenblick nicht sehen kannst. Vielleicht empfände ich etwas ähnliches wie du, wenn der Heckenschütze, der meine Mutter und meinen Bruder getötet hat, ein Gesicht gehabt hätte.« Müde sagte sie: »Aber keiner der Soldaten hatte ein Gesicht. Sie alle waren nur der gesichtslose Feind.«
»Aber ich habe ein Gesicht und sogar einen Namen dazu.«
»Ich weiß. Joel hat mir erzählt, daß Nicholas ihn dir gegeben hat.« Sie zuckte mit den Schultern. »Aber er mußte es wohl tun.
Joel war sehr besorgt um dich, und Nicholas wollte dir das Leben retten, darum hat er es dir erzählt.«
»Das wusste
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