Das Schweigen der Schwaene
verbrannte ihre Hände, als sie anderthalb Meter schlitterte, ehe sie sich wieder fing.
»Keine Angst«, rief Randall spöttisch. »Wenn du fällst, fangen wir dich auf, Süße.«
Wieder brachen die Männer in dröhnendes Gelächter aus.
Ignorier sie. Das konnte sie. Ignorier den Schmerz. Immer nur einen Schritt. Denk an nichts anderes. Es gab nur das Seil und die Wand.
Wieder begann sie zu klettern.
Einen Meter rauf.
Sie glitt ab und krachte gegen die Wand.
Anderthalb Meter rauf.
Wie viele Meter noch?
Es war egal. Man schaffte alles, wenn man sich von Minute zu Minute weiterarbeitete. Nach zehn dieser quälenden Minuten hatte sie endlich das obere Ende der Wand erreicht und schwang
sich rittlings darauf. Dann blickte sie auf Randall und die Männer herab. Es dauerte einen Augenblick, bis sie wieder zu Atem kam. »Ich habe es geschafft, du Hurensohn. Und jetzt hoffe ich, daß du dein Versprechen hältst.«
Sein Lachen verstummte, ebenso wie das der anderen.
»Kommen Sie da runter.«
»Sie haben mir versprochen, mich zu nehmen, wenn ich es schaffe. Und ein Offizier hält immer sein Wort, nicht wahr? «
Er bedachte sie mit eine m kalten Blick. »Also gut, kleine Dame, es wird uns ein Vergnügen sein, Sie in unserer Mitte zu sehen.
Morgen rücken wir zum Manöver aus. Das gefällt Ihnen bestimmt.«
Was hieß, daß er die Absicht hatte, ihr das Leben zur Hölle zu machen. Sie ließ sich auf der anderen Seite der Holzwand herunter, und als sie unten ankam, wartete er bereits auf sie.
»Das hier ist Sergeant George Wilkins. Er wird Ihnen Ihre Ausrüstung geben. Habe ich schon erwähnt, daß ihm Frauen beim Militär ein Dorn im Auge sind? «
Sie nickte dem untersetzten, kräftig gebauten Sergeant zu.
Wilkins sagte: »Das hätte ein Baby geschafft. Im Vergleich zu den Sümpfen ist diese Holzwand der reinste Klacks.« Mit diesen Worten wandte er sich ab und stapfte davon.
»Laufen Sie ihm besser nach«, sagte Randall in geradezu freundlichem Ton. »Und ich an Ihrer Stelle würde mir die Hände verbinden. In den Sümpfen gibt es alle möglichen Pilze und Bakterien. Schließlich wollen wir doch nicht, daß Sie sich irgendwas einfangen, kleine Dame.«
Erst jetzt bemerkte sie, daß ihre Handflächen aufgerissen waren und bluteten. Die Wunden allerdings störten sie nicht so sehr wie der herablassende Spitzname, der ihr von ihm verpaßt worden war. »Ich versuche stets, eine Dame zu sein, aber ich bin nicht klein.« Sie wandte sich ab und ging in die Richtung, in die Wilkins verschwunden war.
Als sie dem Sergeanten eine Stunde später in den langen Schlafsaal folgte, senkte sich bedrohliche Stille über den Raum.
»Das ist Ihr Bett.« Wilkins wies auf eine Pritsche unter einem der vergitterten Fenster. »Solange Sie hier sind.«
Er machte kehrt und ging davon.
Sie versuchte, die Männer im Raum zu ignorieren, während sie ihre Kleider und Ausrüstung auf die Pritsche warf. Doch das war leichter gesagt als getan. Die Blicke der Kerle brannten sich wie glühende Eisen in ihr Kreuz. Was machte sie nur hier? überlegte sie, und Verzweiflung wallte in ihr auf. Das Ganze war vollkommen verrückt. Es mußte einen anderen Weg geben, um zu erreichen, was erforderlich war.
Ignorier sie. Vielleicht gab es andere Wege, aber keiner war so schnell wie der, der von ihr gewählt worden war. Sie hatte sich einen Plan zurechtgelegt und wich nicht wieder davon ab.
Sie sortierte ihre Kleider und wandte sich dann der M16 und der Pistole, die Wilkins ihr gegeben hatte, zu. Mußte sie sie nicht reinigen oder so? In sämtlichen Kriegsfilmen, die sie je gesehen hatte, hatte es eine Szene gegeben, in der irgendein armer Kerl bestraft worden war, weil er sein Gewehr nicht gereinigt hatte.
»Kann ich Ihnen helfen? «
Sie erstarrte und drehte sich um.
Ein Kind. Ein schlaksiger Junge, der höchstens siebzehn war.
Seine krumme Nase war mit Sommersprossen bedeckt, und er lächelte sie zögernd, fast schüchtern an.
»Ich bin Peter Drake.« Er setzte sich auf ihre Pritsche. »Ich habe beobachtet, wie Sie die Wand raufgeklettert sind. Ich glaube nicht, daß es dem Colonel gefallen hat, daß Sie oben angekommen sind. Mir hat es gefallen. Es gefällt mir, wenn Leute gewinnen.« Sein Lächeln strahlte kindliches Vergnügen aus.
Kindlich. Sie starrte ihn an, und mit einem Mal wurde ihr klar, wie passend diese Bezeichnung war. Großer Gott, Randall mußte ein Teufel sein, wenn er einen Jungen wie ihn in seinem Lager duldete. »Ja? «
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