Das Schweigen der Toten
bewerkstelligen, aber durchaus machbar. Der Täter hat wahrscheinlich durch den Einschnitt in den Hals gegriffen und die Arterie herausgezogen. Wenn man die aufschneidet, spritzt einem ein Blutgeysir entgegen.»
Kat spürte, dass die Kopfschmerzen im Anzug waren, mit denen ihr Gehirn auf Stress reagierte. Sie fingen hinter den Augen an und breiteten sich dann bis zu den Schläfen aus. Unter den gegebenen Umständen wunderte sie sich nur, dass es jetzt erst losging.
«Scheußlich, so zu sterben», sagte Nick.
Kat hatte dem nichts hinzuzufügen. Perry Hollow war von tragischen Begebenheiten nicht verschont geblieben. Unfälle. Folgenschwere Stürze. Aber was Nick beschrieb, war so grausam und entsetzlich, dass sie es kaum fassen konnte. Und eine solche Tat war nicht möglich, ohne dass jemand sie geplant hatte. Man musste sich gründlich darauf vorbereiten.
«Es kommt noch schlimmer», warnte Nick. «Soll ich fortfahren?»
Kat hätte am liebsten verneint, aber es war Teil ihres Jobs, die Frage zu bejahen.
«Sie wissen, was der Mörder sonst noch angerichtet hat, oder?»
«Sie denken wahrscheinlich an den Mund des Opfers», sagte Kat. «Er war zugenäht.»
«Das allein meine ich nicht.»
«Was denn?»
«Wenn man eine Leiche öffnet, tritt kaum Blut aus, weil das Herz stillsteht und alle Körperflüssigkeiten absacken. Von Wallace aber war zu hören, dass Georges Lippen stark geblutet haben.»
«Ja, das ist mir auch aufgefallen», bestätigte Kat. Wenn sie ihre Augen schloss, sah sie die roten Eiskristalle rund um den Mund der Leiche. Es war das erste Mal, dass sie gefrorenes Blut gesehen hatte, und hoffentlich das letzte Mal.
«George muss also noch am Leben gewesen sein, als ihm die Lippen zerstochen wurden», sagte Nick.
Ihr schwirrte der Kopf, als sie sich vorzustellen versuchte, was das für das Opfer bedeutete. Hatte George womöglich gehört, wie der Faden durch die Lippen geglitten war? Etwa, wie wenn ein Schnürsenkel durch die Ösen eines Schuhs geführt wurde?
Sie verdrängte den Gedanken und fragte: «Wann ist der Tod eingetreten?»
«Schwer zu sagen. Wallace meint, frühestens zwölf Stunden, bevor Sie ihn gefunden haben. Genaueres kann er nicht sagen.»
«Warum nicht?»
«Nachdem George ausgeblutet ist, hat der Mörder eine Flüssigkeit in seinen Körper gepumpt.»
«Um Himmels willen», murmelte Kat. «Was für eine Flüssigkeit?»
«Ein Gemisch aus Wasser und Formaldehyd.»
«Formaldehyd? Sind Sie sicher?»
«Die Leiche ist voll davon. Deshalb lässt sich der Todeszeitpunkt nicht genau bestimmen. Das Gemisch hat alle Mikroorganismen abgetötet, die normalerweise das Gewebe zersetzen. Es wirkt auch der Leichenstarre entgegen. Die Wundränder der Halsschlagader lassen außerdem darauf schließen, dass ein Tubus gelegt wurde.»
«Ein Tubus?», fragte Kat ungläubig.
«Irgendetwas in dieser Art, jedenfalls ein Gegenstand, durch den der Täter das Wasser-Formaldehyd-Gemisch in den Kreislauf des Opfers gepumpt hat. Erfolgreich, wenn auch nicht gerade professionell.»
«Wer macht so etwas denn professionell?»
«Er ist Leichenbestatter», antwortete Nick. «Nachdem George Winnick verblutet ist, hat der Mörder versucht, ihn einzubalsamieren.»
Neun
Henry lag auf seiner Drückbank und ächzte unter der Last einer 100-Kilo-Hantel, die er von der Brust in die Höhe drückte, für drei Sekunden mit ausgestreckten Armen in der Luft hielt und langsam wieder absenkte. Durch seine Muskeln strömte eine angenehme Wärme.
«Eins», sagte er.
Wieder stemmte er die Hantel nach oben und hielt dem Druck drei Sekunden lang stand.
«Zwei.»
Er hatte in seinem Apartment eine Ecke mit Trainingsgeräten eingerichtet und verwendete täglich eine Stunde darauf, seinen Körper fit zu halten. Obwohl er auf die vierzig zuging, war er so kräftig und agil wie ein sehr viel jüngerer Mann.
«Drei.»
Da sein Gesicht nun mal wenig vorteilhaft aussah, war Henry überzeugt, dem Mitleid der Leute nur entgehen zu können, indem er wenigstens körperlich beeindruckte.
«Vier.»
Er wollte auf keinen Fall bemitleidet werden.
«Fünf.»
Er wollte in Ruhe gelassen werden.
Während er seine Gewichte stemmte, hörte er laut Musik. Puccinis
Tosca
, eine seiner Lieblingsopern. Seit etwa fünf Jahren hörte er kaum mehr etwas anderes als Opern. Besonders die Tragödien hatten es ihm angetan. Ihm gefiel, wofür viele andere keinen Sinn hatten: Geschichten von unglücklicher Liebe, von Verwechslungen und gebrochenen
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