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Das Schweigen der Toten

Das Schweigen der Toten

Titel: Das Schweigen der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Todd Ritter
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Herzen. Melodramatisch, ja, aber auch wahr. Man konnte durchaus so leidenschaftlich lieben, dass man für den Geliebten tötete, dass, wenn er oder sie starb, ein großer Teil von einem selbst auch starb. Opern waren tragisch. Wie das Leben.
    Als er sein Pensum geschafft hatte, legte er – schwer atmend und mit heftig pochendem Herz – die Hantel ab und lauschte der Musik. Zu hören war «E lucevan le stelle», die Arie im dritten Akt, in der sich Cavaradossi, zum Tode verurteilt, an seine Geliebte Tosca erinnert. Obwohl in der Originalversion gesungen, verstand Henry jedes Wort. Er sprach fließend Italienisch, er hatte es in seinem alten Leben gelernt. Vor dem Unfall. Ehe er Henry Ghoul war.
    E lucevan le stelle.
    Henry sprach die Worte auf Englisch, wie ein Gebet. «Und es leuchteten die Sterne.»
    Mit geschlossenen Augen konzentrierte er sich auf die Musik, den Text und die perfekte Stimme. Er dachte an Gia. Süße Gia. Seine italienische Rose. Die Arie hätte für sie geschrieben sein können.
    Entrava ella, fragrante.
    «Wie eine Blume duftend, trat sie ein, und schon lag sie in meinen Armen.»
    Für gewöhnlich schwelgte er in den Klängen. Aber heute war es anders. Die Arie und seine Gedanken an Gia trübten seine Stimmung und machten ihn unruhig.
    L’ora è fuggita … e muoio disperato.
    «Vorbei sind jene Stunden, und ich sterbe in Verzweiflung.»
    E non ho amato mai tanto la vita.
    «Und doch hab ich das Leben nie so geliebt.»
    Henry verließ das Zimmer, ohne den CD -Player auszuschalten. Sein Apartment lag über einer Buchhandlung am Ende der Main Street. Es war geräumig, doch heute fühlte er sich darin beengt und eingeschlossen.
    Er musste raus, und sei es nur für ein paar Minuten.
    Henry eilte durch den Flur in Richtung Tür. Auf der Straße fing er an zu laufen, immer schneller, um mit der leichten Steigung der nördlichen Main Street besser fertigzuwerden. Aber auch, als die Straße nicht mehr anstieg, behielt er das Tempo bei und stürmte über den Gehweg.
    Passanten schauten ihm verwundert nach. Er nahm keine Notiz von ihnen und ignorierte auch die Kälte, der er in seinen dünnen Kleidern ausgesetzt war. Einzig auf den Atem und den Rhythmus seiner Schritte achtete er.
    Die Traurigkeit, die in seiner Wohnung über ihn gekommen war, ließ draußen langsam nach. Aber er wusste, dass sie sich bald wieder einstellen würde, egal, wie schnell er lief. Er konnte seinem Kummer nicht entfliehen.
    Nach einer Viertelstunde verspürte er ein Stechen in der Leiste. Er wurde langsamer und kam an der Ecke Maple und Oak Street zum Stehen. Erschöpft beugte er sich nach vorn, stützte die Hände auf den Knien ab und blickte auf die große Villa im viktorianischen Stil, die vor ihm lag.
    McNeil Bestattungen.
    Er hatte das Haus noch nie von innen gesehen. Es war dreigeschossig, weiß gestrichen, hatte ein grünes Giebeldach, eine rundum laufende Veranda und hohe Fenster mit Buntglasverzierungen. Ein vornehmer letzter Halt auf dem Weg ins Jenseits.
    Als er wieder zu Atem gekommen war, schlug er den Weg ein, der durch den Vorgarten führte. Ohne so genau zu wissen, was er tat, näherte er sich dem Eingang und betrat ein geschmackvoll eingerichtetes Foyer, das von einem großen Mahagonischreibtisch beherrscht wurde. Dahinter saß eine attraktive junge Frau. Sie lächelte, als er auf sie zukam.
    «Hallo, Henry», grüßte sie.
    Er blieb stehen. «Woher wissen Sie, wer ich bin?»
    «Sie machen einen so unsicheren Eindruck.»
    Henry vermutete, dass sie sogar noch untertrieb. In seinem schweißnassen T-Shirt und den Turnschuhen wirkte er wahrscheinlich geradezu grotesk, und sein gerötetes Gesicht ließ die scheußliche Narbe bestimmt noch deutlicher hervortreten.
    Deana Swan hingegen sah besser aus als erwartet. Am Telefon hatte er sie sich vorgestellt wie ein weibliches Ebenbild ihres Bruders, mit Pausbacken und viel zu großen Sweatshirts.
Solche
Frauen, hatte er gedacht, verbrachten den ganzen Tag als Schreibkraft in einem Bestattungsunternehmen.
    Die wirkliche Deana entsprach diesem Bild ganz und gar nicht. Sie war Anfang dreißig, schlank, gut proportioniert und trug einen modischen schwarzen Rock und eine lavendelfarbene Bluse. Das am Hinterkopf zusammengefasste rotblonde Haar brachte schmale Wangenknochen und strahlend blaue Augen zur Geltung.
    «Was führt Sie zu uns?», fragte sie.
    Henry wusste keine Antwort darauf und rührte sich nicht von der Stelle.
    «Ich bin ein bisschen gelaufen», sagte

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