Das Schweigen der Toten
mehr aus seinem Sessel herauskam, damit er ihn endlich einmal überragen konnte.
«Was ich zu sagen hatte, ging nur die Polizei etwas an. Ich durfte dich nicht einweihen.»
«Wie viel weißt du eigentlich von den Morden?»
«Nichts», antwortete Henry. «Ich habe nur eine Todesnachricht erhalten und die Polizei darüber informiert. So war’s auch beim zweiten Mal.»
Dass in beiden Fällen ein Faxgerät vor seine Tür gestellt worden war, erwähnte er nicht.
Der Reporter betrachtete seinen linken Handteller und zeichnete mit dem Zeigefinger die Linien nach, so gewissenhaft und konzentriert, dass er auf Henry gar nicht mehr zu achten schien. Was natürlich nicht der Fall war.
«Du hättest mir zumindest einen Tipp geben können. Ich dachte, wir wären Freunde, Henry. Immerhin gehst du mit meiner Schwester aus.»
«Von Ausgehen kann kaum die Rede sein», entgegnete Henry ein wenig zu abwehrend.
«Ich weiß von ihr, dass du sie geküsst hast.»
Es war wohl eher umgekehrt gewesen, doch Henry sah keine Veranlassung, das Missverständnis aufzuklären.
«Hast du ein Problem damit?», fragte er.
«Ja und nein. Deana mag dich, und das kann man ihr ja auch nicht verdenken. Du bist klug, athletisch, ein echter
Hingucker
.»
Die Betonung des letzten Wortes ließ Henry unwillkürlich zusammenfahren. Martin bemerkte es und schmunzelte.
«Ich wünsche euch alles Glück dieser Welt. Aber geh nur ja pfleglich mit meiner Schwester um. Sie hat eine Menge durchmachen müssen. Du solltest ihr reinen Wein einschenken.»
«Wie meinst du das?»
Martin fummelte immer noch an seiner Hand herum. Jetzt massierte er die Knöchel mit dem Daumen.
«Bedauerst du, kein Reporter mehr zu sein?», fragte er.
«Nicht wirklich.»
«Das überrascht mich. Ich habe ein paar Nachforschungen angestellt und einige deiner investigativen Artikel gelesen. Du warst gut, Henry, erstaunlich gut. Du könntest großartige Berichte über diese Morde abliefern.»
«Ich schreibe Nachrufe, ich bin kein Reporter mehr.»
«Du könntest aber einer sein. Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, wieder einzusteigen, zumal du über diese beiden Morde mehr zu wissen scheinst, als du preisgibst.»
Henry kapierte endlich, warum Martin ihn in seinem Büro aufgesucht hatte. Als derjenige, der über den jüngsten Fall berichten musste, war Martin neidisch auf alle, die besser informiert waren als er. Nicht anders hatte Henry in vergleichbaren Situationen empfunden, als er noch Reporter gewesen war. Die Angst, von anderen übertrumpft und ausgebootet zu werden, und sei es durch einen Schreiber von Nachrufen, war eine starke Motivation.
«Ich helfe der Polizei, so gut es geht», sagte Henry. «Es ist allerdings nicht viel, was ich anbieten kann.»
«Weißt du, ob es schon Verdächtige gibt?»
Henry hütete sich, den Namen Lucas Hatcher zu erwähnen. Chief Campbell würde ihm eine solche Indiskretion zu Recht verübeln.
«Keine Ahnung.»
«Gib mir bitte Bescheid, wenn du etwas hörst.» Martin kehrte in den Flur zurück, blieb aber hinter der offenen Tür stehen. «Es wäre in deinem ureigensten Interesse», fügte er hinzu.
«Was soll das heißen?»
«Ich könnte meiner Schwester sonst von deiner Frau berichten», antwortete er. «Vielleicht interessiert es Deana, dass du sie umgebracht hast.»
Sichtlich zufrieden mit sich selbst ging Martin davon. Henry blieb reglos sitzen und lauschte den Schritten des Kollegen. Als sie nicht mehr zu hören waren, sank er in sich zusammen.
Martin Swan kannte die Wahrheit. Deana würde bald davon erfahren. So wie alle anderen auch.
Sein Geheimnis war gelüftet.
Henry war zu aufgebracht, um weiterarbeiten zu können, wollte aber auch nicht nach Hause gehen. Also eilte er durch die Straßen und versuchte, seine Probleme abzuschütteln. Was ihm natürlich nicht gelang. Ihm schwirrte der Kopf. Martins unverblümte Drohung und der gewaltsame Tod von Troy Gunzelman vermengten sich mit Erinnerungen an Gia und seiner Zuneigung zu Deana.
Henry fürchtete durchzudrehen. Über das Phänomen des Wahnsinns glaubte er einiges zu wissen. Es gehörte zum Standardrepertoire seiner Lieblingsopern. Doch keine von ihnen erzählte von einer Zwangslage, die mit seiner vergleichbar war. Dass die Helden den Verstand verloren, lag daran, dass sie von etwas besessen waren, meistens von leidenschaftlicher Liebe. Henry dagegen fühlte sich von einer Vielzahl von Problemen belastet und zerrieben. Er hatte keine Ahnung, wie er dieses Durcheinander
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