Das Schweigen der Tukane
Freundschaft seien jetzt wichtiger. Ich solle mich damit abfinden. Sieht diese Nora gut aus?»
«Ziemlich.»
«So gut wie Sie?»
«Das müssen Sie einen Mann fragen. Da bin ich nicht objektiv.»
«Ich möchte ein Foto von dieser Nora sehen. Haben Sie eines dabei?»
«Leider nein.»
Emma Grauwiler lehnte sich zurück. Sie atmete tief ein und aus.
«Und jetzt? Ist es gut, dass Peter tot ist? Ist es schlecht, dass Peter tot ist? Ich weiss es nicht. Schrecklich! Ich sollte um ihn trauern, aber es fällt mir schwer. Wir verbrachten so viel Zeit miteinander und doch kannte ich ihn nicht. Wie konnte er mir das nur antun? Mein ganzes Leben habe ich nach ihm ausgerichtet. Jetzt ist das Kartenhaus, das Lügengebilde zusammengekracht. Was soll jetzt werden?» Sie erhob sich und öffnete das Fenster zum Garten. «Entschuldigen Sie, Frau Kupfer, wie heissen Sie mit Vornamen?»
«Nadine.»
«Entschuldigen Sie, Nadine, dass ich Sie mit meinem Geschwätz belästige. Sie sind sicher nicht hier, um sich das Gejammer einer hysterischen Kuh anzuhören.»
«Ich … es tut mir so leid, Frau Grauwiler.»
«Emma, ich heisse Emma.»
«Sie sagen, dass er sich seit einigen Jahren anders verhält.»
«Er zog sich Schritt für Schritt von mir zurück. Nur privat, geschäftlich harmonierten wir wie früher.»
«Was gehörte zu Ihrem Aufgabenbereich?»
«Ich habe die Termine koordiniert, die Auftritte geplant, die Reden geschrieben.»
«Gibt es einen Terminplan?»
«Sicher. Auf meinem Laptop. Ich drucke ihn aus, wenn Sie wollen.»
«Wissen Sie auswendig, wie der gestrige Tag aussah?»
«Morgens um neun mit Hanspeter Sonderegger in Augst. Es ging um eine Werbekampagne der Partei, für die wir einen Sponsor suchten. Eine ziemlich wichtige Sache, deshalb war auch der Parteipräsident dabei. Am Nachmittag ein Vortrag an der Universität und am Abend ein Dinner mit Vortrag bei Novartis.»
«Waren Sie nicht überrascht, dass er schon so früh das Haus verliess?»
«Doch, und wie! Ich wies unserer Köchin nämlich an, das Frühstück um acht Uhr zu servieren. Er verliess jedoch das Haus, kurz nachdem ich aufgestanden war.»
«Ohne Begründung?»
«Er müsse noch kurz in die Kanzlei und sich dann mit Hanspeter absprechen. Ich fand das sonderbar, wollte aber nicht schon wieder einen Streit anfangen.»
«Hatte Ihr Mann Feinde?»
«Feinde? Wahrscheinlich war ich sein einziger Feind.»
«Das dürfen Sie nicht sagen, Emma.»
«Auch nicht, wenn es der Wahrheit entspricht? Er war total unglücklich in Bern. Vielleicht wäre alles anders verlaufen, wenn ich nicht so ehrgeizig gewesen wäre.»
«Hat Ihr Mann Drohungen erhalten? Gab es Konflikte in der Partei?», setzte Nadine nach.
«Nein! Mein Mann war sehr beliebt und auch in der Partei unangefochten. Seit alle wissen, dass er sein Amt zur Verfügung stellt, hat natürlich das Gerangel um seine Nachfolge begonnen. Aber die kleine Partei wird in Schwierigkeiten geraten, denn Peter war das Aushängeschild. Ich glaube nicht, dass sie den Sitz verteidigen können. Weshalb fragen Sie mich nach den Feinden, Nadine?»
«Wir müssen alle Möglichkeiten ausloten.»
«Sie bezweifeln also, dass diese Frau Schüpfer die Mörderin ist?»
«Es sind lediglich Vermutungen. Bewiesen ist noch gar nichts. Wenn wir Nora Schüpfer vernehmen können, wissen wir mehr. Bis dahin ermitteln wir auch in andere Richtungen.»
«In welche Richtungen?»
«Wir klären zum Beispiel ab, ob es ein politisch motivierter Mord sein könnte oder ob es einen Zusammenhang mit der Kanzlei gibt.»
«Verdächtigen Sie etwa Remo Kuster?»
«Wir verdächtigen niemanden.»
«Und gleichzeitig alle!», schmunzelte sie.
«Das kann man so sagen.»
«Remo gehört wie ich zu den Verlierern. Es ist ein grosser Verlust für ihn und die Auswirkungen auf die Kanzlei sind nicht abzuschätzen. Ich sprach heute lange mit ihm. Seine Kurzschlusshandlung zusammen mit Hanspeter ist mir ehrlich gesagt ein Rätsel. Ich weiss nicht, wie er so etwas machen konnte. Sicher, er wollte den guten Ruf von Peter wahren, und das rechne ich ihm hoch an, aber doch nicht auf diese Weise.»
«Er weiss, dass er einen Fehler gemacht hat.»
«Verdächtigen Sie auch mich, Nadine?»
«Sollte ich?»
«Ja und nein. Ich bin seine Mörderin, Nadine. Nicht physisch, aber psychisch. Ich konnte nicht loslassen. Dabei wusste ich, dass er nicht mehr will, nicht mehr kann. Doch ich … ich wollte über ihn das erreichen, wozu ich selbst nicht in der Lage bin. Er
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