Das Schweigen der Tukane
seitlich in den Arm und einer von hinten direkt ins Herz. Sicher kein Zufallstreffer, der letzte Stich.»
«Wie kommst du darauf?»
«Ich denke, dass sie sich stritten. Dann ist er wahrscheinlich auf sie losgegangen. Sie nimmt das Messer und sticht zu. Erster Stich in den Bauch. Er weicht aus, zweiter Stich in den Arm, er fällt bäuchlings aufs Bett, dritter Stich in den Rücken. Das wars. Aus die Maus!»
Da war sie wieder, die Schuldzuweisung. Obwohl Strub sich bemühte, neutral zu berichten, und natürlich die Unschuldsvermutung kannte, hatte auch er bereits Nora Schüpfer verurteilt.
«Gab es irgendwelche Kampfspuren?»
«Nichts, auch keine Kratzspuren. Und Sex hatte der Nationalrat auch nicht. Verfluchte Sache.»
«Was ist mit der Tatwaffe?»
«Ein Stiletto-Springmesser. Eine sehr beliebte Waffe, die ursprünglich aus Italien stammt und sich bis ins 16. Jahrhundert nachweisen lässt. Die relativ schmale, aber lange Klinge verursacht äusserlich wenig sichtbaren Schaden. Das heisst im Klartext, es floss nur wenig Blut. Dafür ist der innere Schaden meist erheblich, wie der vorliegende Fall drastisch belegt. Du hast also Glück, Francesco. Dank dieser heimtückischen Tatwaffe hast du es nicht mit einer blutgetränkten Leiche zu tun.»
Ferrari erbleichte. Allein der Gedanke daran trieb ihm den Schweiss auf die Stirn. Strub lachte.
«Schon fertig! Ich will dein zartes Gemüt nicht überstrapazieren. Die Idioten transportierten die Leiche mit dem Messer ab. Es lag neben dem Opfer im Büro.»
«Fingerabdrücke?»
«Von einer Person, die nicht in unserer Datenbank erfasst ist. Das Messer passt im Übrigen genau in eine Scheide, die wir in Nora Schüpfers Schminktisch gefunden haben. Ich gehe davon aus, dass das Messer ihr gehört. Verständlich, dass sie sich eine Waffe zulegt bei ihrem Risikoberuf. Immerhin waren Sonderegger und Kuster nicht so dumm, das Messer mit blossen Händen anzufassen. Glaubten die wirklich, dass wir auf ihre idiotische Aktion hereinfallen?»
«Anscheinend. Wenn wir nur diese Nora auftreiben könnten.»
«Am besten gleich im Dreierpack, mit der Kleinen und mit Thuri. Die Meinungen bei den Kollegen gehen ziemlich weit auseinander. Die einen halten Thuri für einen Idioten, weil er sich mit einer Nutte einlässt, und die anderen finden es toll, dass er zu seiner Beziehung steht.»
«Und was denkst du?»
«Thuri ist ein Idiot und Noldi ein dreifacher. Du bist echt zu beneiden, Francesco. Nadine ist schwer in Ordnung. Seit ich das dem Trottel von IT-Spezialist um die Ohren gehauen habe, redet er nicht mehr mit mir.»
«Hoffentlich nimmt das alles ein gutes Ende. Wurde eigentlich Noras Terminkalender in Bettingen gefunden?»
«Fehlanzeige. Wahrscheinlich trägt sie diesen auf sich.»
«Was gibt es noch?»
«Nichts. Es ist alles gesagt, Francesco. Ich hoffe für Thuri, dass Nora unschuldig ist. Aber wer war es dann?»
«Das sage ich dir, wenn wir es wissen.»
«Auf jeden Fall steckt hinter dieser Tat eine grosse Wut.»
Ferrari sah ihn fragend an.
«Angenommen Grauwiler belästigt diese Nora. Sie will nicht so recht am frühen Morgen, er wird wild, geht auf sie los und bedrängt sie. Da greift sie zum Messer und sticht zu. Soweit ein mögliches Szenario. Nur eines begreife ich nicht, weshalb um Himmels willen sticht sie ein drittes Mal zu, als er wehrlos auf dem Bauch liegt. Das Ziel war doch erreicht, Notwehr! Daher glaube ich, dass der Mörder von abgrundtiefem Hass getrieben wurde.» Strub ging zur Tür. «Morgen bin ich nicht da. Ich fahre mit Susanne nach Luzern. Die Schwiegermutter wird achtzig, sie ist rüstig wie eine Zwanzigjährige. Zuerst gibts Älplermakronen, dann wird bis zum Umfallen gejasst.»
«Viel Spass und liebe Grüsse an Susanne. Übrigens … danke!»
Strub sah ihn irritiert an.
«Ich bin froh, dass du nicht zu denen gehörst, die über Nadine herziehen.»
Ein weiterer Versuch, Richter aufzutreiben, schlug fehl. Ferrari überlegte, ob man auch ihn zur Fahndung ausschreiben sollte, entschied sich aber, zuzuwarten. Vielleicht würde es etwas bringen, nochmals mit diesem Irren Robert Stolz zu sprechen. Ferrari lehnte sich zurück. Die Stimmung im Kommissariat war alles andere als gut, die Anspannung gross. Jedes falsche Wort konnte eine Explosion auslösen. Wie Strub gesagt hatte, die Meinungen waren gemacht. Doch es gab nicht nur eine Fraktion für Thuri und eine gegen ihn, sondern gleichzeitig eine pro und kontra Nadine. Wohl die Hälfte der Kolleginnen
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