Das Schweigen der Tukane
«Nadine, du bist doch die Polizei.»
«Ich arbeite bei der Polizei.»
«Dann weisst du sicher, wo Mami ist.»
«Sie ist bei uns, sie hilft uns.»
«Arbeitet denn Mami jetzt auch bei der Polizei?»
«Ein klein wenig schon. Was ist das?»
«Ein Verkaufsladen. Willst du bei mir einkaufen?»
«Ist denn dein Laden so spät noch geöffnet?»
Julie sah nach draussen.
«Immer. Auch in der Nacht.»
«Was verkaufst du denn?»
«Alles. Eier, Brot, Wurst, auch Briefmarken.»
«Dann kaufe ich ein Brot und eine Briefmarke.»
«Hier. Damit musst du bezahlen», Julie gab Nadine das Spielgeld und rannte hinter den Verkaufsladen.
«Was darfs sein? … Das sagt die Frau in der Bäckerei immer.»
«Ein Brot und eine Briefmarke.»
«Das ist leider Aus.»
«Aha!»
«Das sagt die Frau auch immer.»
«Und Eier?»
«Hier. Das kostet hundert Franken.»
«Das sind aber teure Eier.»
«So viel kostet es halt.»
Nadine bezahlte. Nun musste Rebecca einkaufen. Sinnigerweise waren Brot und auch Briefmarken plötzlich wieder erhältlich.
«Julie, wo warst du in den letzten Tagen.»
«Bei Mami.»
«Und wer brachte dich zu Mami?»
«Ein Mann.»
«Kennst du diesen Mann?»
«Nein. Er hat mir im Garten gesagt, er komme von Mami und bringe mich zu ihr. Aber ich darf nicht mit Fremden mitgehen. Da hat er mich einfach festgehalten und in sein Auto gesetzt. Ich musste dann ganz fest weinen.»
«Hat er dich direkt zu deiner Mami gebracht?»
«Er hat zuerst Mami angerufen.»
«Kannst du den Mann beschreiben?»
«Ein schwarzer Mann.»
«Meinst du die Hautfarbe?»
«Julie meint sicher, dass der Mann schwarz gekleidet war», ergänzte Rebecca.
«Stimmt das?»
«Ja, alles schwarz.»
«Und das Gesicht?»
«Wie wir.»
«Wohin brachte dich der Mann?»
«Zu Mami.»
«Und wo ist Mami gewesen?»
«Beim Bahnhof.»
«Dort, wo man genau vor den Eingang fahren kann?»
«Ja. Mami wartete dort.»
«Sprach sie mit dem Mann?»
«Nein. Er ist gar nicht ausgestiegen. Er hat mir die Tür aufgemacht und ist dann weggefahren.»
«War es ein böser Mann, Julie?»
«Nein», sie winkte lachend ab. «Ein ganz lieber. Er hat gesagt, dass er Mami schon lange kennt.» Julie kam hinter dem Verkaufsladen hervor. «Wenn du noch etwas einkaufen willst, musst du morgen wiederkommen. Jetzt bin ich müde.»
«Und?»
«Julie kann den Unbekannten nicht beschreiben. Ein ganz lieber Mann in Schwarz, das bringt uns leider nicht weiter. Möglich, dass er Noras Komplize ist, genauso gut könnte er Nora mit Julie erpressen. Verdammter Mist, Francesco. Jagen wir einem Phantom nach?»
«Wahrscheinlich. Aber ich würde es mir nie verzeihen, wenn wir Nora unschuldig hinter Gitter bringen.»
«Sie braucht nur die Wahrheit zu sagen und schon ist sie draussen. Was, wenn sie das bereits getan hat?»
Ferrari nickte nachdenklich. Manchmal war die Realität hart und entsprach so gar nicht unseren Vorstellungen und Wünschen. Hat mich mein Bauchgefühl tatsächlich im Stich gelassen? Hm. Borers Worte hallten in seinem Kopf nach: «Der Fall ist gelöst.» Also gut, es ist ja wirklich sinnlos, nach einem Mörder zu suchen, wenn wir diesen bereits verhaftet haben.
«Wir schliessen den Fall ab, Nadine. Ich bin nicht glücklich darüber, doch wir können es drehen und wenden, wie wir wollen, es kommt immer aufs Gleiche heraus.»
«Soll ich nochmals mit Nora reden, von Frau zu Frau?»
«Keine schlechte Idee! Morgen früh?»
«Lieber jetzt.»
«Es ist aber schon kurz vor Mitternacht.»
«Sie sitzt seit gut zwei Stunden in der Zelle. Allein. Die ersten vierundzwanzig Stunden sind die schlimmsten. Die Decke fällt ihr auf den Kopf und Julie fehlt ihr. Der Zeitpunkt könnte nicht besser sein.»
«Einverstanden.»
Nadine zog alle Register, aber Nora blockte ab. Sie habe nichts hinzuzufügen. Soger, als ihr Nadine auf den Kopf zusagte, dass sie sich vor jemandem fürchte und Julie schützen wolle, blieb sie bei ihrer Aussage. Das wars, mehr können wir nicht tun. Auf dem Gang begegneten sie Noldi.
«Du bist noch da?»
«Mir ist etwas aufgefallen. Nur eine Kleinigkeit, aber vielleicht ist sie von Bedeutung.»
«Dann nochmals alle zurück in mein Büro», beorderte der Kommissär.
Noldi setzte sich an den Klubtisch, während sich Nadine provokativ am Ende des Büros an die Wand stellte, soweit wie möglich von Noldi entfernt.
«Thuri stellte euch doch die Liste mit den Freiern zusammen. Wo ist sie?»
Ferrari zog sie aus der Akte.
«Hier.»
«Lass mich bitte
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