Das Schweigen des Glücks
überlegte Denise, ob sie bei seiner Baustelle vorbeigehen sollte, aber die Erinnerung an ihren letzten Besuch hielt sie davon ab.
Stattdessen ließ sie den Abend noch einmal Revue passieren und versuchte, die Sache zu verstehen. Jedem positiven Aspekt stand ein negativer gegenüber. Ja, er war vorbeigekommen…, aber möglicherweise hatte seine Mutter etwas zu ihm gesagt. Ja, er war wunderbar mit Kyle aber vielleicht wollte er so von dem ablenken, was ihn eigentlich quälte. Ja, er hatte gesagt, sie sei ihm wichtig aber nicht so wichtig, dass er sie in eine Zukunft mit einschloss. Sie hatten miteinander geschlafen…, aber morgens war er ohne ein Wort verschwunden.
Sie analysierte, räsonierte, sezierte… sie hasste es, die Beziehung zu einem Untersuchungsobjekt zu machen. Das hatte man in den achtziger Jahren gemacht, da hatte man psychologisiert und Wörter und Taten zu interpretieren versucht, die etwas bedeuteten oder auch nicht.
Nein, Unsinn. Sie bedeuteten etwas und das war genau der Punkt.
Doch im Innersten wusste sie, dass Taylor nicht log, wenn er sagte, sie sei ihm wichtig. Nur weil sie diese Überzeugung hatte, gab sie nicht auf. Aber…
So viele Aber in letzter Zeit.
Sie schüttelte den Kopf und versuchte, diese Gedanken zu verdrängen, wenigstens so lange, bis sie ihn wieder sah. Er würde am Abend vorbeikommen, um sie zur Arbeit zu fahren. Zwar wäre die Zeit zu kurz, um das Thema wieder aufzugreifen, aber sie war sich sicher, dass sie mehr Klarheit haben würde, sobald sie ihn wieder sah. Vielleicht kam er sogar ein bisschen früher.
Die Zeit bis zum Abend verging langsam. Kyle war in einer seiner schwierigen Stimmungen – er sprach nicht, war mürrisch und dickköpfig –, was ihre Laune nicht verbesserte, aber es hielt sie davon ab, den ganzen Tag über Taylor nachzudenken.
Kurz nach fünf dachte sie, sie hätte seinen Truck auf der Straße gehört, aber als sie aus dem Haus trat, war er nirgends zu sehen. Enttäuscht wie sie war, zog sie sich für die Arbeit um, machte für Kyle einen Käse-Toast und sah sich die Nachrichten an.
Die Zeit verging. Es war sechs Uhr. Wo war er?
Sie stellte den Fernseher aus und versuchte, Kyle für ein Buch zu interessieren – ohne Erfolg. Dann setzte sie sich auf den Boden und fing an, mit seinen Legosteinen zu bauen, aber Kyle beachtete sie gar nicht und malte in seinem Malbuch. Sie wollte ihm helfen, doch er wies sie ab. Sie seufzte und gab auf.
Stattdessen ging sie in die Küche und räumte auf, damit die Zeit verging. Viel zu tun gab es nicht, aber sie fand einen Korb mit Wäsche, die sie zusammenfaltete.
Halb sieben – und er war immer noch nicht da. Ihre Unruhe wich einem dumpfen Gefühl im Magen.
Er kommt noch, sagte sie sich. Oder?
Wider besseres Wissen wählte sie seine Nummer, aber niemand nahm ab. Sie ging in die Küche, holte sich ein Glas Wasser und stellte sich ans Wohnzimmerfenster. Sie sah hinaus und wartete.
Und wartete.
Noch eine Viertelstunde, bis ihre Arbeit anfing.
Noch zehn Minuten.
Um fünf vor sieben hielt sie das Glas so fest umklammert, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Sie löste den Griff und spürte, wie das Blut wieder in die Finger strömte. Es wurde sieben Uhr. Sie hatte die Lippen fest zusammengepresst und rief Ray an. Sie entschuldigte sich und sagte, sie käme etwas später.
»Wir müssen los, Kyle«, sagte sie, nachdem sie aufgelegt hatte. »Wir nehmen die Fahrräder.«
»Nei«, sagte er.
»Das ist keine Frage, Kyle, wir müssen los. Steh auf!«
Beim Klang ihrer Stimme legte Kyle seine Buntstifte weg und kam zu ihr.
Fluchend ging sie zur hinteren Veranda und holte ihr Fahrrad. Sie schob es nach vorn, merkte, dass es nicht gleichmäßig rollte, und rüttelte es, bevor sie sah, was los war.
Sie hatte einen Platten.
»Oh nein… nicht heute Abend«, sagte sie ungläubig. Als könnte sie ihren Augen nicht trauen, befühlte sie den Reifen mit den Fingern: Er war weich und gab bei geringem Druck nach.
»Verdammt«, sagte sie und trat gegen das Rad. Sie ließ das Fahrrad auf ein paar Kartons fallen und ging wieder in die Küche, als Kyle gerade herauskam.
»Wir nehmen nicht die Fahrräder«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Komm rein.«
Kyle wusste, dass er sie jetzt nicht bedrängen durfte, und folgte ihr. Denise ging zum Telefon und versuchte wieder, Taylor zu erreichen. Keiner da. Verärgert warf sie den Hörer auf die Gabel, dann überlegte sie, wen sie anrufen könnte. Rhonda nicht –
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