Das Schweigen des Glücks
einfach loszulassen und seinen Namen so laut sie konnte zu rufen. Sie stellte sich vor, dass er sie hören konnte, und wollte, dass er ihre Worte verstand.
Komm zurück, Kyle. Komm zurück zu der Stelle, wo Mommy war. Du hörst mich doch, oder?
Es kümmerte sie nicht, als die Krankenschwestern ihr sagten, sie solle still sein, sie solle sich beruhigen, während sie sich heftig gegen ihre Griffe wehrte. So entspannen Sie sich doch, hatten sie gesagt, es wird alles gut werden.
Aber sie konnte nicht aufhören. Sie rief immer weiter seinen Namen und wehrte sich, bis man sie schließlich hierher brachte. Da hatte sie alles aus sich herausgeschrien und die Schreie wurden zu Schluchzern. Eine Krankenschwester war ein paar Minuten bei ihr geblieben und hatte sich um sie gekümmert, aber dann war sie in ein anderes Zimmer gerufen worden. Seitdem lag Denise allein.
Sie starrte wie gebannt auf den Sekundenzeiger der Wanduhr.
Tick.
Niemand wusste, wie die Dinge standen. Bevor die Krankenschwester fortgerufen wurde, hatte Denise sie gebeten, bei der Polizei anzurufen und zu fragen, ob es Neuigkeiten gebe. Sie hatte sie inständig gebeten, aber die Krankenschwester hatte ihren Wunsch abgeschlagen. Sobald sie etwas erführen, würden sie es ihr mitteilen, hatte sie gesagt. Bis dahin sei es das Beste, wenn sie zur Ruhe kommen und sich entspannen könnte.
Entspannen.
Waren sie verrückt?
Er war immer noch irgendwo da draußen und Denise wusste, dass er lebte. Er musste leben. Wenn Kyle tot war, wüsste sie es. Sie würde es tief in sich spüren, es wäre ein fassbares Gefühl, wie ein Schlag in die Magengrube. Vielleicht hatten sie eine besondere Verbindung, vielleicht gab es das zwischen allen Müttern und ihren Kindern. Vielleicht lag es daran, dass Kyle nicht sprechen konnte und sie sich auf ihren Instinkt verlassen musste, wenn sie mit ihm umging. Sie wusste es nicht genau. Aber in ihrem Herzen glaubte sie, sie würde es wissen, und bisher war ihr Herz still gewesen.
Kyle lebte noch.
Er musste noch leben…
Oh, bitte, lieber Gott, lass ihn…
Tick.
Judy McAden klopfte nicht an, sondern öffnete leise die Tür. In dem Zimmer war das Deckenlicht ausgeschaltet, eine kleine Lampe in der Ecke verbreitete ein mattes Licht und Judy trat leise ein. Als sie die Tür hinter sich schloss, wandte Denise benommen den Kopf und sah sie an.
Als Judy sich im Halbdunkel umdrehte und Denise im Bett liegen sah, erstarrte sie. Es war einer der seltenen Momente in ihrem Leben, in denen sie nicht wusste, was sie sagen sollte.
Sie kannte Denise Holton.
Auf der Stelle – trotz des Verbands um den Kopf, trotz der Schwellungen im Gesicht, trotz aller Umstände erkannte Judy in Denise die junge Frau, die in der Bibliothek die Computer benutzte. Die mit dem süßen Jungen, der Spaß an Büchern über Flugzeuge hatte…
Oh nein… der süße kleine Junge…
Denise jedoch stellte die Verbindung nicht her, als sie blinzelnd die Frau vor sich ansah. Ihre Gedanken waren immer noch verschwommen. Krankenschwester? Nein nicht die richtige Kleidung. Polizei? Nein, zu alt… aber irgendwie kam ihr das Gesicht bekannt vor…
»Kenne ich Sie?«, fragte sie mit krächzender Stimme. Judy fasste sich wieder und trat auf das Bett zu. »In gewisser Weise. Ich habe Sie in der Bibliothek gesehen. Ich arbeite da.«
Denise hatte die Augen halb geöffnet.
Die Bibliothek?
Das Zimmer begann sich wieder zu drehen.
»Was machen Sie hier?«
Die Worte kamen undeutlich hervor, die Laute waren zu einem Brei zusammengezogen.
Gute Frage,
dachte Judy unwillkürlich.
Nervös zupfte sie an dem Schulterriemen ihrer Handtasche. »Ich habe gehört, dass Ihr Sohn verschwunden ist. Mein Sohn ist einer von denen, die jetzt nach ihm suchen.«
Während Judy sprach, flackerte eine Mischung aus Hoffnung und Angst in Denises Augen auf und ihr Ausdruck wurde klarer. Sie formulierte eine Frage und diesmal klangen die Wörter deutlicher als davor.
»Wissen Sie etwas Neues?«
Die Frage kam unvermittelt, aber eigentlich hätte Judy damit rechnen müssen. Warum sonst sollte sie gekommen sein?
Judy schüttelte den Kopf. »Nein, nichts. Es tut mir Leid.«
Denise presste die Lippen zusammen und schwieg. Sie schien die Antwort abzuwägen, bevor sie sich wegdrehte.
»Ich möchte allein sein«, sagte Denise.
Judy wusste nicht, was sie tun sollte –
warum bin ich bloß gekommen? Sie kennt mich nicht einmal –,
und sagte das Einzige, was sie selbst hätte hören wollen, und das
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