Das Schweigen des Glücks
Ich hoffe bei Gott, du hast Recht.«
Halb eins schon.
Als Judy McAden im Krankenhaus ankam, ging sie sofort zur Anmeldung. Sie war mit Krankenhausregeln bestens vertraut, deshalb fragte sie, ob sie ihre Nichte Denise Holton sehen könne. Die Schwester an der Anmeldung stellte keine Fragen – der Warteraum war immer noch voll – und sah in der Kartei nach. Denise Holton, erklärte sie, sei in ein Zimmer im Obergeschoss verlegt worden, aber die Besuchszeit sei vorbei. Wenn sie morgen früh wiederkommen könne…
»Können Sie mir wenigstens sagen, wie es ihr geht?« unterbrach Judy sie.
Die Schwester zuckte müde die Schultern. »Hier steht, dass sie geröntgt wurde, mehr weiß ich nicht. Ich bin mir sicher, Sie können mehr erfahren, wenn sich hier die Dinge wieder beruhigt haben.«
»Wann fängt die Besuchszeit an?«
»Um acht Uhr.«
Die Schwester hatte schon eine andere Karteikarte in der Hand.
»Ach so«, sagte Judy und klang entmutigt. Sie warf einen Blick in den Bereich hinter der Krankenschwester, wo es noch chaotischer zuzugehen schien als im Wartesaal. Krankenschwestern liefen hierhin und dorthin und wirkten gehetzt und angestrengt.
»Muss ich mich hier melden, bevor ich zu ihr nach oben gehe? Morgen, meine ich?«
»Nein. Sie können beim Haupteingang um die Ecke reingehen. Gehen Sie morgen früh rauf zu Zimmer 217. Melden Sie sich am besten bei der Stationsschwester, die zeigt Ihnen dann das Zimmer.«
»Danke.«
Judy trat vom Tisch zurück und der Nächste in der Schlange rückte vor. Es war ein Mann mittleren Alters mit einer starken Alkoholfahne. Sein Arm lag in einer improvisierten Schlinge.
»Warum dauert es so lange? Mein Arm bringt mich noch um… «
Die Schwester seufzte ungeduldig. »Es tut mir Leid, aber Sie sehen ja, wir haben sehr viel zu tun heute Abend. Der Arzt kommt, sobald… «
Judy versicherte sich, dass die Aufmerksamkeit der Schwester ganz dem Mann galt. Dann verließ sie den Warteraum durch die Schwingtüren, die sie direkt in den Haupttrakt des Krankenhauses führten. Von früheren Besuchen wusste sie, dass die Aufzüge am Ende des Korridors waren.
Nur wenige Minuten später huschte sie an einem leeren Stationszimmer vorbei, auf dem Weg zu Zimmer 217.
Zur gleichen Zeit, da Judy auf dem Weg zu dem Zimmer war, in dem Denise lag, nahmen die Männer ihre Suche wieder auf. Sie waren jetzt vierundzwanzig und ließen zwischen sich nur so viel Abstand, dass sie den Schein der Lampe des Nebenmannes noch sehen konnten, und bildeten so einen Streifen, der eine viertel Meile breit war. Langsam fingen sie an, sich in südöstlicher Richtung vorwärts zu bewegen; sie scherten sich nicht um das Unwetter und leuchteten jeden Fleck mit ihren Lampen aus. Nach ein paar Minuten waren die Lichter der Autos an der Straße vom Dunkel verschluckt. Für die neu Hinzugekommenen war die plötzliche Dunkelheit ein Schock und sie fragten sich, wie lange ein Junge wohl hier draußen überleben konnte.
Einige der anderen hingegen stellten sich inzwischen die Frage, ob sie die Leiche finden würden.
Denise war noch wach, denn Schlaf war ein Ding der Unmöglichkeit. An der Wand neben ihrem Bett hing eine Uhr, auf die ihr Blick geheftet war; sie sah die Minuten mit beängstigender Regelmäßigkeit verstreichen.
Kyle war seit fast vier Stunden verschwunden.
Vier Stunden!
Sie wollte etwas tun – statt hier zu liegen, so hilflos und nutzlos für Kyle und die Suchenden. Sie wollte auch nach ihm suchen und die Tatsache, dass sie nicht draußen dabei war, schmerzte sie mehr als ihre Verletzungen. Sie musste wissen, was los war. Sie wollte die Sache in die Hand nehmen. Aber sie konnte gar nichts tun.
Ihr Körper hatte sie im Stich gelassen. In der letzten Stunde hatte das Schwindelgefühl nur wenig nachgelassen. Sie konnte sich nicht lange genug aufrecht halten, um über den Flur zu gehen, vom Mitmachen bei der Suche konnte gar keine Rede sein. Helles Licht tat ihren Augen weh, und als der Arzt ihr ein paar einfache Fragen stellte, hatte sie sein Gesicht dreimal vor sich gesehen. Jetzt, allein im Zimmer, hasste sie sich für ihre Schwäche. Was war sie für eine Mutter?
Sie konnte nicht einmal nach ihrem Kind suchen!
Um Mitternacht, als Kyle seit drei Stunden verschwunden war und ihr klar wurde, dass sie das Krankenhaus nicht würde verlassen können, war sie völlig zusammengebrochen. Immer wieder hatte sie Kyles Namen gerufen, sobald sie geröntgt worden war. Es war eine merkwürdige Erleichterung,
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