Das Schweigen des Glücks
auch nicht. Sie war immer so lebensfroh, so leidenschaftlich – es war aufregend, in ihrer Nähe zu sein. Und sie hatte ein engelreines Herz, wirklich wahr. Sie war der liebste Mensch, den ich kannte.«
Judy wandte den Kopf. »Du bist ihr sehr ähnlich.«
Denise versuchte diese neuen Informationen über ihre Mutter zu verdauen und Judy trank einen Schluck von ihrem Tee. Dann sagte Judy, als wusste sie, dass sie zu viel erzählt hatte: »Aber hör dir nur an, wie ich immerfort erzähle – wie eine einfältige alte Frau. Du denkst bestimmt, es wäre an der Zeit, dass ich ins Altersheim gehe. Wir sollten lieber über dich sprechen.«
»Über mich? Da gibt es nicht viel zu erzählen.«
»Dann fangen wir mit dem Offensichtlichen an. Warum bist du nach Edenton gekommen?«
Denise sah zu Kyle hinüber, der mit seinen Lastautos spielte, und fragte sich, was er wohl dachte.
»Es gibt mehrere Gründe.«
Judy beugte sich nach vorn und flüsterte verschwörerisch: »Männerprobleme? Ein psychotischer Spanner, wie die in ›America's Most Wanted‹?«
Denise kicherte. »Nein, nichts, was so dramatisch wäre… «
Sie brach ab und runzelte leicht die Stirn.
»Wenn es zu privat ist, dann erzähl es mir nicht. Es geht mich sowieso nichts an.«
Denise schüttelte den Kopf.
»Es macht mir nichts aus, darüber zu sprechen, es ist einfach nur schwer, einen Anfang zu finden.«
Judy schwieg und Denise seufzte und ordnete ihre Gedanken.
»Eigentlich hat es hauptsächlich mit Kyle zu tun. Ich glaube, ich habe dir schon gesagt, dass er Probleme mit dem Sprechen hat, oder?«
Judy nickte.
»Habe ich auch gesagt, warum?«
»Nein.«
Denise sah wieder zu Kyle hinüber.
»Also, im Moment heißt es, er habe ein Problem bei der Auflösung von Lauten, man könnte auch sagen, die rezeptive und expressive Sprachentwicklung ist bei ihm gestört. Einfach ausgedrückt heißt das, dass es ihm aus irgendeinem Grund – den keiner kennt – schwer fällt, Sprache zu verstehen und sprechen zu lernen. Wahrscheinlich ist Legasthenie das beste Analogbeispiel, nur dass es hier nicht um die Verarbeitung von visuellen Zeichen geht, sondern von Lauten. Anscheinend werden die Laute alle vermischt – als würde man in einem Moment Chinesisch hören, im nächsten Deutsch und dann irgendein Kauderwelsch. Ob das Problem in der Verbindung zwischen Ohr und Gehirn liegt oder im Gehirn selbst, weiß keiner. Aber am Anfang konnte niemand eine Diagnose stellen und… na ja… «
Denise fuhr sich mit der Hand durchs Haar und sah Judy an. »Willst du das wirklich alles hören? Es ist eine ziemlich lange Geschichte.«
Judy streckte die Hand aus und tätschelte Denise das Knie. »Nur, wenn du es mir erzählen willst.«
Judys ernster Ausdruck erinnerte Denise an ihre Mutter. Es tat ihr seltsamerweise gut, darüber zu sprechen, und sie zögerte nur einen Augenblick, bevor sie weitersprach.
»Also, am Anfang dachten die Ärzte, er sei taub. Wochenlang bin ich mit Kyle zu Fachärzten für Audiologie und Hals-Nasen-Ohren-Ärzten gelaufen, bis sie festgestellt haben, dass er hören kann. Dann haben sie gedacht, er sei autistisch. Bei der Diagnose blieb es dann ein Jahr lang wahrscheinlich das anstrengendste Jahr meines Lebens. Danach kam die These, dass es eine allgemeine Entwicklungsstörung sei, was so ähnlich wie Autismus ist, nur nicht so ernst. Das ging auch ein paar Monate, bis sie mehr Tests mit ihm gemacht hatten. Dann haben sie gesagt, er sei zurückgeblieben und habe obendrein noch ein Aufmerksamkeitsdefizit. Erst vor ungefähr neun Monaten haben sie sich auf diese Diagnose festgelegt.«
»Das muss sehr schwer für dich gewesen sein… «
»Du kannst dir das nicht vorstellen. Du kriegst etwas Schreckliches über dein eigenes Kind gesagt und durchläufst alle Stadien, von Ungläubigkeit über Wut bis hin zu Trauer, bis du dich schließlich damit abfindest. Dann bringst du alles in Erfahrung, was es darüber zu wissen gibt, du machst deine Recherchen, liest und sprichst mit jedem, der etwas darüber weiß – und am Ende, wenn du so weit bist, dass du damit leben kannst, kommen sie mit einer neuen Diagnose und alles fängt von vorn an.«
»Wo war Kyles Vater während dieser Zeit?«
Denise zuckte mit den Schultern, eine Art Schuldgefühl stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Den Vater gab es nicht. Sagen wir mal so: Ich hatte nicht damit gerechnet, schwanger zu werden. Kyle war ein Versehen, sozusagen.«
Sie sprach nicht weiter und zu zweit
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