Das Schweigen des Glücks
nicht antworten. Er hätte die Frage mit ein paar unerheblichen Sätzen abtun können, aber im ersten Moment sagte er nichts.
Die Nacht um sie herum war sehr belebt. Frösche und Insekten und das Rascheln von Laub. Der Mond war aufgegangen und stand oberhalb der Bäume. In dem milchigen Licht sah man ab und zu eine Fledermaus vorbeifliegen. Denise musste sich weit zu ihm herüberbeugen, um ihn zu verstehen.
»Mein Vater starb, als ich neun war«, sagte er.
Denise sah ihn aufmerksam an, während er redete. Er sprach langsam, als musste er seine Gedanken sammeln, doch sie konnte das Zögern in jeder Linie seines Gesichts erkennen.
»Aber er war mehr als nur mein Vater. Er war außerdem mein bester Freund.«
Er zögerte. »Ich weiß, dass das seltsam klingt. Ich meine, ich war ja nur ein Kind und er ein erwachsener Mann, aber trotzdem. Er und ich, wir waren unzertrennlich. Wenn es auf fünf Uhr zuging, wartete ich an der Haustür darauf, dass sein Truck in die Einfahrt einbog. Er arbeitete im Sägewerk. Sobald er die Autotür aufmachte, rannte ich auf ihn zu und sprang in seine Arme. Er war stark – auch als ich nicht mehr ganz so klein war, hat er nicht gesagt, ich solle es nicht tun. Ich legte meine Arme um seinen Hals und atmete seinen Geruch tief ein. Er arbeitete schwer und sogar im Winter konnte ich den Schweiß und das Sägemehl an seinen Kleidern riechen. Er nannte mich kleiner Mann.«
Denise nickte.
»Meine Mom wartete immer im Haus, während er mich fragte, wie es mir ging und wie es in der Schule war. Und ich habe ganz schnell erzählt, weil ich möglichst viel sagen wollte, bevor wir drinnen waren. Obwohl er müde war und sicher auch meine Mutter sehen wollte, hat er mich nie zur Eile gedrängt. Er hat mich alles erzählen lassen, was ich auf dem Herzen hatte, und wenn ich fertig war, hat er mich abgesetzt. Dann nahm er seine Provianttasche und fasste mich an der Hand und zusammen sind wir ins Haus gegangen. «
Taylor schluckte schwer und versuchte angestrengt, an die guten Dinge zu denken.
»Und am Wochenende sind wir immer angeln gegangen. Ich kann mich nicht erinnern, wie alt ich war, als ich das erste Mal mit ihm angeln war – wahrscheinlich jünger als Kyle. Wir sind mit dem Boot rausgerudert und haben stundenlang gesessen. Manchmal erzählte er Geschichten – er kannte jede Menge – und er beantwortete alle Fragen, die ich ihm stellte, so gut er konnte. Mein Vater hatte keinen High-School-Abschluss, aber er konnte die Dinge ziemlich gut erklären. Und wenn ich ihn etwas fragte, was er nicht wusste, dann hat er das gesagt. Er war nicht einer von denen, die die ganze Zeit Recht haben müssen.«
Beinahe hätte Denise die Hand nach ihm ausgestreckt, aber er schien in die Vergangenheit versunken, das Kinn auf der Brust.
»Ich habe ihn nie zornig erlebt, ich habe nie erlebt, dass er seine Stimme gegen jemanden erhoben hätte. Wenn ich mich quer stellte, sagte er nur: ›Das reicht jetzt, mein Junge.‹ Und dann habe ich aufgehört, weil ich wusste, dass ich ihn enttäuschte. Ich weiß, das klingt wahrscheinlich komisch, aber ich wollte ihn einfach nicht enttäuschen.«
Taylor hörte auf zu sprechen und atmete tief und langsam ein.
»Er muss ein wunderbarer Mensch gewesen sein«, sagte Denise. Sie wusste, dass sie auf etwas Wichtiges in Taylors Leben gestoßen war, konnte aber seine Form und Bedeutung noch nicht erfassen.
»Das war er.«
In seiner Stimme schwang etwas Endgültiges, was eine weitere Diskussion ausschloss, obwohl Denise vermutete, dass es noch viel zu dem Thema zu sagen gab. Eine lange Zeit standen sie da, ohne zu sprechen, und hörten dem Zirpen der Grillen zu.
»Wie alt warst du, als dein Vater starb?«, fragte er schließlich und durchbrach das Schweigen.
»Vier.«
»Erinnerst du dich an ihn, so wie ich mich an meinen erinnere?«
»Eigentlich nicht, nicht so wie du. Ich erinnere mich an Bilder – wie er mir Geschichten vorgelesen hat oder wie sich sein Schnurrbart angefühlt hat, wenn er mir einen Gutenachtkuss gab. Ich war immer glücklich, wenn er da war. Und immer noch vergeht kein Tag, an dem ich mir nicht wünsche, die Uhr zurückdrehen und den Gang der Dinge ändern zu können.«
Als sie das sagte, sah Taylor sie überrascht an, weil sie den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. In wenigen Worten hatte sie ausgedrückt, was er Valerie und Lori vergeblich zu erklären versucht hatte. Obwohl sie Mitgefühl gezeigt und ihm zugehört hatten, waren sie außerstande
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