Das Schweigen des Glücks
Wort: Apfel. Darunter, bis zum Schluss der Seite und weiter auf der Rückseite, war eine Beschreibung des ersten Tages, an dem sie mit Kyle gearbeitet hatte.
»Darf ich?«, fragte er und deutete auf das Blatt. Denise nickte und er las bedächtig und nahm jedes Wort auf. Als er am Ende angekommen war, sah er hoch.
»Vier Stunden?«
»Ja.«
»Nur, um das Wort Apfel zu sagen?«
»Na ja, er hat es auch am Schluss eigentlich nicht richtig gesagt, aber es war so, dass man verstehen konnte, was er meinte.«
»Wie hast du es geschafft, dass er es gesagt hat?«
»Ich habe einfach immer weiter mit ihm geübt.«
»Aber woher wusstest du, was funktionieren würde?«
»Ich habe es nicht gewusst. Wenigstens nicht am Anfang. Ich habe viel darüber gelesen, wie man mit Kindern wie Kyle vorgehen kann. Zum Beispiel habe ich mich über verschiedene Programme, die an Universitäten ausprobiert werden, informiert und alles Mögliche über Sprechtherapie gelesen. Aber nirgendwo wurde Kyle richtig beschrieben – ich meine, teilweise stimmte es überein, aber eigentlich ging es um andere Kinder. Und dann habe ich zwei Bücher gefunden – einmal ›Kinder, die spät sprechen lernen‹ von Thomas Sowell und ›Ich würde euch so gern verstehen!‹ von Catherine Maurice –, die der Sache am nächsten kamen. Sowells Buch hat mir zum ersten Mal gezeigt, dass ich nicht allein bin mit diesem Problem und dass es viele Kinder gibt, die Schwierigkeiten mit dem Sprechen haben, obwohl sie sonst ganz normal sind. Und das Buch von Maurice hat mir ein paar Ideen für den Unterricht mit Kyle gegeben, obwohl es bei ihr in erster Linie um Autismus geht.«
»Und was machst du jetzt?«
»Ich benutze ein Programm für Verhaltensmodifikation, das ursprünglich an der University of California in Los Angeles entwickelt wurde. Sie haben im Laufe der Jahre viel Erfolg mit autistischen Kindern gehabt, indem sie gutes Verhalten belohnen und schlechtes bestrafen. Ich habe das Programm für Sprachverhalten abgewandelt, weil das Kyles einziges Problem ist. Im Grunde genommen geht das so, dass Kyle eine kleine Süßigkeit bekommt, wenn er das sagt, was er sagen soll. Wenn er es nicht sagt, kriegt er nichts. Wenn er es nicht einmal versucht oder sich sträubt, dann schimpfe ich mit ihm. Als ich ihm das Wort Apfel beigebracht habe, habe ich auf das Bild von einem Apfel gezeigt und das Wort immer wieder gesagt. Anfangs habe ich ihm eine Süßigkeit gegeben, wenn er einen Laut hervorbrachte, dann, wenn es der richtige Laut war, und am Schluss bekam er nur eine Belohnung, wenn er das ganze Wort sagte.«
»Und das hat vier Stunden gedauert?«
Denise nickte. »Vier unglaublich lange Stunden. Er hat geweint und sich aufgelehnt, dann hat er versucht, von seinem Stuhl runterzusteigen und hat geschrien, als würde ich ihn mit Nadeln foltern. Ich habe das Wort wahrscheinlich fünfhundert oder sechshundert Mal gesagt. Ich habe es so oft gesagt, bis wir es beide nicht mehr hören konnten. Es war schrecklich, wirklich schrecklich, für uns beide und ich dachte nicht, dass wir es schaffen würden, aber dann…«
Sie lehnte sich ein wenig zu ihm hinüber.
»Als er es gesagt hat, war das ganze Schreckliche der Situation plötzlich weg – die ganze Frustration und die Wut und die Angst, die wir beide erlebt hatten. Ich weiß noch, wie aufgeregt ich war – das kannst du dir gar nicht vorstellen. Ich habe angefangen zu weinen und habe ihn das Wort bestimmt zehnmal sagen lassen, bevor ich es wirklich geglaubt habe. Damals hatte ich zum ersten Mal einen Beweis dafür, dass Kyle lernfähig ist. Ich hatte es allein erreicht und ich kann überhaupt nicht beschreiben, was das bedeutete, nach allem, was die Ärzte über ihn gesagt hatten.«
Sie schüttelte nachdenklich den Kopf bei dem Gedanken an jenen Tag, dann fuhr sie fort:
»Na ja, und danach haben wir neue Wörter probiert, immer eins nach dem anderen, bis er sie verstanden hatte. Irgendwann war er so weit, dass er jeden Baum und jede Blume, jeden Autotyp und jedes Flugzeug benennen konnte… er hatte einen großen Wortschatz, aber er hatte immer noch nicht begriffen, dass die Sprache einen Nutzen hat. Dann haben wir mit Wortverbindungen angefangen, also ›blaues Auto‹ und ›großer Baum‹, und da hat er angefangen zu verstehen, was ich ihm beibringen wollte – dass Wörter zur Verständigung da sind. Nach ein paar Monaten konnte er fast alles nachsprechen, was ich ihm vorsprach, und dann habe ich angefangen, ihm
Weitere Kostenlose Bücher