Das Schweigen des Glücks
beizubringen, was eine Frage ist.«
»War das schwer?«
»Es ist immer noch schwer. Schwerer, als ihm Wörter beizubringen, weil er jetzt versuchen muss, die Intonation zu deuten und die Frage zu verstehen, und er muss die angemessene Antwort geben. Das alles drei fällt ihm sehr schwer und daran haben wir in den letzten Monaten gearbeitet. Am Anfang bestand das Problem bei den Fragen darin, dass Kyle einfach nachsprechen wollte, was ich gesagt hatte. Ich habe zum Beispiel auf einen Apfel gezeigt und gesagt: ›Was ist das?‹ und Kyle wiederholte: ›Was ist das?‹ Also habe ich gesagt: ›Nein, du musst sagen: »Es ist ein Apfel«.‹ Darauf sagte er: ›Es ist ein Apfel.‹ Dann habe ich die Frage geflüstert und die Antwort laut gegeben und gehofft, er würde das verstehen. Stattdessen hat er ebenfalls die Frage geflüstert und die Antwort laut gesagt und dabei meine Wörter und meinen Tonfall genau nachgeahmt. Es hat Wochen gedauert, bis er einfach nur die Antwort gesagt hat. Natürlich habe ich ihn belohnt, wenn er das gemacht hat.«
Taylor nickte. Er verstand jetzt ansatzweise, wie schwierig all das gewesen sein musste.
»Du musst eine Engelsgeduld haben«, sagte er.
»Nicht immer.«
»Aber du arbeitest jeden Tag mit ihm… «
»Es muss sein. Und man sieht ja, welche Fortschritte er gemacht hat.«
Taylor blätterte zum Ende des Tagebuchs. Während am Anfang als Lehrstoff jeweils nur ein Wort vermerkt war, umfassten die Aufzeichnungen von den Stunden, die sie jetzt mit Kyle arbeitete, mehrere Seiten.
»Er hat tatsächlich Fortschritte gemacht.«
»Und was für welche. Aber er hat noch einen langen Weg vor sich. Er kann gut auf Fragen mit ›was‹ und ›wo‹ antworten, aber Fragen mit ›warum‹ oder ›wie‹ versteht er immer noch nicht. Er führt bisher auch keine Gespräche es sind immer nur einzelne Aussagen. Außerdem findet er es schwierig, Fragen zu formulieren. Er versteht, was ich meine, wenn ich sage: ›Wo ist dein Spielzeug?‹, aber wenn ich sage: ›Wo hast du dein Spielzeug hingetan?‹, zeigt er keine Reaktion. Deshalb bin ich froh, dass ich ein Tagebuch geführt habe. Immer, wenn Kyle einen schlechten Tag hat und das passiert ziemlich oft –, dann schlage ich das Tagebuch auf und rufe mir ins Gedächtnis zurück, welche Hindernisse er schon überwunden hat. Eines Tages, wenn das alles hinter ihm liegt, werde ich ihm das Buch geben. Ich will, dass er es liest, damit er weiß, wie sehr ich ihn liebe.«
»Das weiß er auch jetzt.«
»Ja schon, aber ich möchte auch, dass er irgendwann mal sagt, er liebt mich.«
»Macht er das jetzt nicht? Wenn du ihm abends gute Nacht sagst?«
»Nein«, sagte sie, »Kyle hat das noch nie zu mir gesagt.«
»Hast du versucht, es ihm beizubringen?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil ich die Überraschung erleben möchte, dass er es eines Tages von sich aus sagt.«
In den nächsten anderthalb Wochen verbrachte Taylor immer mehr Zeit bei Denise. Er kam nachmittags vorbei, wenn er wusste, dass Kyle und sie nicht mehr arbeiteten. Manchmal blieb er eine Stunde, manchmal etwas länger. Zweimal spielte er mit Kyle Fangen, während Denise auf der Veranda saß und zusah; am dritten Tag brachte er ihm bei, einen Ball mit einem kleinen Baseballschläger, den Taylor als Kind selbst benutzt hatte, von einem Tee abzuschlagen. Nach jedem Versuch holte Taylor den Ball wieder, setzte ihn auf das Tee und ermutigte Kyle, es noch einmal zu probieren. Als Kyle genug hatte, war Taylors Hemd schweißnass. Denise küsste ihn – zum zweiten Mal , als sie ihm ein Glas Wasser brachte.
Am Samstag, eine Woche nach der Kirmes, fuhr Taylor mit ihnen nach Kitty Hawk, wo sie den Tag am Strand verbrachten. Taylor zeigte ihnen die Stelle, von der aus Orville und Wilbur Wright 1903 zu ihrem historischen Flug gestartet waren. Sie aßen ihr mitgebrachtes Picknick und machten einen langen Spaziergang am Strand, bei dem sie durch die heranplätschernden Wellen wateten, während über ihnen die Seeschwalben durch den Himmel schössen. Gegen Ende des Nachmittags bauten Denise und Taylor Sandburgen, die Kyle mit größtem Vergnügen wieder zerstörte. Wie Godzilla brüllend, stapfte er durch die festgeklopften Formen, kaum dass sie geschaffen waren.
Auf dem Weg nach Hause hielten sie an einem Bauernstand an der Straße und kauften frische Maiskolben. Kyle bekam Makkaroni mit Käsesoße und Taylor aß seine erste Mahlzeit bei Denise. Die Sonne und der Wind hatten Kyle müde gemacht,
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