Das Schweigen des Lemming
fragt Walla, wieder dem Lemming zugewandt. «Unsereiner hat auch zu arbeiten, weißt du das nimmer? Oder hast ’leicht a Hirnamnestie, seit du nimmer bei die Krimineser bist?»
«A Partie haben wir laufen g’habt, bei uns am Gürtel draußen», setzt Pekarek nach. «Lauter Frankisten, wichtige Leut …»
Der Lemming greift nach seinem Wasserglas, trinkt langsam und lange, blickt schließlich auf. «Also warts ihr beim Stoß?», fragt er mit skeptisch gerunzelter Stirn. Er ist nahe daran, den beiden zu glauben: Mit dem Stoßspiel macht man in Wien keine Witze.
Immerhin lässt dieses illegale Kartenspiel die Kassen der Ganoven für gewöhnlich lauter klingeln als das Geschäft mit dem Sex, was nicht zuletzt an den Geheimnissen und Legenden liegt, die sich darum ranken. Neben Gangstern und Zuhältern finden sich nämlich auch so genannte Frankisten bei den Stoßpartien ein, also unbescholtene, meist wohlbestallteGeschäftsleute, die – gelangweilt vom täglichen Geldverdienen – den Nervenkitzel des Verbotenen suchen. Gemeinsam mit den Spitzen der Unterwelt verschanzen sie sich in gut versteckten, streng bewachten Hinterzimmern und verlieren Haus und Hof, während vor allem einer gewinnt: der König des Stoß. Er ist der namenlose Mann, der das gesamte Wiener Stoßspiel kontrolliert; er gestattet und verbietet, eröffnet und beendet die Partien, und er ist es letzten Endes auch, unter dessen Ägide Franz Walla und Schurl Pekarek ihrer nächtlichen Arbeit nachgehen, ihrem Zweitberuf neben dem horizontalgewerblichen Management, wenn man so will.
Walla ist
Bankerer
: Er schneidet, also mischt, die zweiunddreißig Karten, streift die Einsätze ein, zahlt die Gewinne aus. Diese Betätigung hat ihm ja auch seinen Spitznamen eingebracht: der schnelle Finger. Walla ist – nicht zu Unrecht – stolz darauf.
Pekarek ist
Schmierer
, wie schon sein Beiname sagt: eine zwar weniger ruhmreiche, aber nicht minder verantwortungsvolle Aufgabe. Er steht vor der Tür des Spielzimmers, manchmal auch draußen auf der Straße, und gibt Acht. Obwohl die Polizei die Stoßpartien – schon wegen der zum Teil illustren Teilnehmer – in der Regel ungeschoren lässt, kann man nicht vorsichtig genug sein: Schließlich sind auch die ungeliebten Kollegen von der Ostmafia auf der steten Suche nach neuen Einnahmequellen.
Mit dem Stoßspiel macht man in Wien keine Witze. Trotzdem beschließt der Lemming, noch einmal nachzuhaken.
«Ihr habts also nicht zufällig einen kleinen Ausflug nach Schönbrunn gemacht? In den Tiergarten?»
«Tiergarten? Du bist schon lustig, Wallisch … In Schönbrunn gibt’s kan Stoß und kan Strich. Unsere Katzen sind auf der Straßen und net hinter Gittern …»
«Schon gut … Ich glaub euch ja …»
Etwas anderes bleibt ihm wohl auch nicht übrig, dem Lemming.So schön es auch gewesen wäre, die beiden Strizzis für den Mord im Polarium verantwortlich machen zu können, so offensichtlich ist die Tatsache, dass sie es nicht gewesen sind. Und nicht nur wegen ihres dubiosen Alibis, nein: Ihre beste Entschuldigung ist ihre Dummheit. Sie hätten es in hundert Jahren nicht geschafft, Josef Pokornys Telefonnummer in theosophisch reduzierbare Jahreszahlen zu zerlegen …
«Darf’s noch was sein, Poldi?» Der Kellner ist an den Tisch getreten und räumt die leeren Gläser ab, ohne Walla und Pekarek eines Blickes zu würdigen.
«Danke, Gerhard … Ich möcht dann gern zahlen …»
«Einen Mokka?»
«Nein. Alles zusammen. Die Herren sind eingeladen …»
13
Wie alles im Leben ist auch die Hurerei von enormen Preis- und Qualitätsunterschieden geprägt. Besonders dem liebeshungrigen Großstadtmann steht eine breite Palette an Möglichkeiten zur Auswahl, wie, wo und mit wem er den gewerblichen Austausch von Körpersäften vollziehen kann.
Am untersten Ende der Skala rangiert zweifellos der Wiener Prater, in dessen gottverlassenen Alleen und Gassen sich nachts die jüngsten Bordsteinschwalben finden lassen: Nestflüchter mit gebrochenen Flügeln, die – je nach Jahreszeit – hinter den Büschen oder auf dem Rücksitz eines Autos ihr kostengünstiges Mundwerk verrichten. Man muss schließlich irgendwie leben, und sei es auch nur in der Phantasie: Mit der täglichen Dosis Schnee im Blut lässt sich der traurige Rest leichter schlucken.
Gleich neben dem Prater residieren die etwas besser situierten Damen. Im Stuwerviertel, das nach dem Pyrotechniker und Feuerwerkskönig Johann Stuwer
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