Das Schweigen des Lemming
absieht. Die Stimmung ist zweifellos gut, beinahe aufgekratzt: Man plaudert, diskutiert und lacht, trinkt Wein und knabbert Salzgebäck. Nur auf die Gemälde an der Wand scheint niemand zu achten, und wie denn auch: Man sieht die Kunst vor lauter Leuten nicht.
Durch eine Gruppe stark geschminkter Frauen schiebt sichder Lemming die Stufen hinab. Drängt dann nach links in das nächste Gewölbe, ringt nach Luft, nach Spielraum, kämpft mit seinen klaustrophoben Neigungen. Erst nach einer Viertelstunde findet er die Antwort auf die zweite Frage: Am anderen Ende des Raumes steht breit und rot und lachend Herrmann Riedmüller. Umringt von einer andächtig lauschenden Menschenschar, hat er sich dort vor einem seiner Bilder aufgebaut und schwadroniert und gestikuliert mit seltsam klobigen, weißen Händen: Eingegipst, stellt der Lemming fest, als er näher tritt. Eingegipst bis zu den Ellenbogen.
«Sehr gut!», ruft Riedmüller schon im nächsten Augenblick, zieht seine Augenbrauen hoch und breitet die Bandagen aus, «wunderbar! Bist du doch noch gekommen! Darf ich vorstellen», wendet er sich an die Umstehenden, «Leopold Wallisch, ein großer, ein mutiger Mann! Wenn auch nicht in der Bildnerei …»
Schon wenden sich alle Blicke dem Lemming zu, freundlich und fragend: Man erwartet Aufklärung.
«Ach so … Ja … Guten Abend allerseits …», stottert er und sieht Riedmüller Hilfe suchend an. Und der steht ihm glücklicherweise zur Seite, löffelt die Suppe bereitwillig aus, die er ihm eingebrockt hat.
«Ein großer Mann im Sicherheitswesen, müssen Sie wissen! Äußerst wichtige Dinge! Geheime Dinge …» Mit einem Mal senkt der Maler die Stimme. Runzelt dann besorgt die Stirn, als witterte er Tücke und Verrat. «Apropos, wenn uns die Damen und Herren kurz entschuldigen würden …»
Er bedeutet dem Lemming, ihm zu folgen, und bahnt sich mit seinen gipsernen Rammböcken einen Weg durch die Menge, bis er an einem weiß gedeckten Tisch im Nebenraum zu stehen kommt. Eine Batterie gefüllter Gläser ist auf dem Tischtuch verteilt, Wein und Sekt, Wasser und Fruchtsaft, dazwischen kleine Schalen mit Kartoffelchips.
«Sei so gut, Wallisch», schmunzelt Riedmüller und zeigt auf eines der Gläser, «man muss nicht gleich allem entsagen: Als Invalider ist man schon gestraft genug …»
Der Lemming nimmt das Glas und führt es an die Lippen des Malers, gießt ihm behutsam den Wein in die Kehle, tupft ihm zu guter Letzt mit einer Serviette die Mundwinkel ab.
«Deine Hände», meint er dann mit einem bedauernden Blick auf die Gipsverbände, «ich hab in der
Reinen
davon gelesen».
«In der
Reinen Wahrheit
also! Na bitte! Und jetzt schau dir an, was für ein Abend …» Zufrieden lässt Riedmüller seine Augen über die Menschenmassen wandern. «Was Besseres hätt mir gar nicht passieren können. Fast alle Zeitungen haben darüber berichtet, eine Notiz im Lokalteil war noch das Mindeste. Heut Vormittag hat’s sogar eine Meldung im Radio gegeben … Also ehrlich: Wenn ich wüsste, wer die zwei Trottel gestern Nacht gewesen sind, ich tät mich auf Knien bei ihnen bedanken.»
Der Lemming schweigt. Wenn Riedmüller wüsste, so denkt er, dass die zwei Trottel sein Gemälde in Pokornys Wohnung zerstört haben, wäre er vielleicht anderer Meinung. Außerdem haben Walla und Pekarek ihren Lohn bereits empfangen: eine Rissquetschwunde, zwei ausgeschlagene Zähne und dreitausend Euro …
«Fünf Bilder», fährt Riedmüller fort, «fünf Bilder hab ich schon verkauft, und nur, weil ich den beiden Idioten in die Goschen gehaut hab … Günstige Sterne, Wallisch, äußerst günstige Sterne … Na ja, für mich jedenfalls.» Er legt eine Pause ein, beugt sich dann langsam vor und nähert seinen Mund dem Ohr des Lemming. «Für unseren Freund Pokorny weniger …»
«Was?» Der Lemming fährt zurück. «Wie meinst du das?»
«Ganz einfach, Wallisch: Du hast Recht gehabt. Er wird nicht kommen …»
«Aber woher …»
«Er hat mich heute Mittag angerufen.»
«Angerufen? Der Pokorny hat dich angerufen?»
«Ja. Ich sag doch, er ist zuverlässig. Ein pflichtbewusster Mann: Der lasst dich nicht so einfach hängen, ganz ohne Entschuldigung … Geh, sei so lieb …»
Auf einen neuerlichen Wink Riedmüllers greift der Lemming zum nächsten Glas, schüttet dem Maler den Wein in den Rachen, hektisch diesmal und ungeduldig wie ein entnervter Rabenvater, der seine Nesthäkchen
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