Das Schweigen des Lemming
Sie?»
Sie hält ihm die Flasche hin, nachdem sie selbst einen kräftigen Schluck genommen hat, und versucht ein Lächeln.
«Er ist unerträglich», meint sie mit einem kurzen Blick zur Bühne hin. «Über die Kunst zu reden ist an sich schon wie … wie über das Tanzen zu kochen. Aber dieser Sprachwichser bricht alle Rekorde …»
«Halbsund», meint der Lemming und seufzt, «typisch Halbsund eben … Sind Sie auch in der … Bildnerei?»
«Ja, doch … Das bin ich. Man wächst so hinein mit der Zeit …»
«Sie studieren also noch?»
«Ja. Malerei. Auf der Akademie … Leonie Wernle.» Sie streckt ihm die Hand hin, der Lemming schlägt ein.
«Wallisch», gibt er zurück, «Leopold Wallisch … Und was treibt Sie heute hierher?»
«Der Riedmüller … Er hat mich früher unterrichtet …»
Etwas dämmert dem Lemming. Es kommt ihm so vor, als gerieten die Stränge in Schwingung, die sich seit gestern durch seine Gedanken ziehen, als kreuzten und umschlängen sie einander, um sich zu roten Fäden zu vereinen.
Gernot Halbsund scheint sich inzwischen dem Höhepunkt seines rhetorischen Gipfelsturms zu nähern. Mit einer gnädigen Gebärde bittet er Herrmann Riedmüller zu sich in den Kreis.
«Zum Abschluss, meine Damen und Herren, erlauben Sie mir, dem Krieger des gestrigen und König des heutigen Abends einen kurzen, persönlichen Reim zu widmen …»
Halbsund wirft sich in Pose. Deutet theatralisch auf Riedmüllers Gipshände. Holt Luft, setzt an, deklamiert: «Und seien ihm die Hände auch gebunden, allein sein Werk wird seinen Geist bekunden …»
Tiefe Verbeugung. Donnernder Applaus. Jubelrufe werden laut. «Halbsund!», tönt es immer wieder durch den Beifallssturm, «bravo, Halbsund!» oder auch «Hoch lebe Halbsund!».
Mit eiligen Schritten nähert sich in diesem Augenblick ein junger Mann dem Getränketisch: schwarze, wirre Haare, schütterer Dreitagebart. Er bleibt stehen, nickt dem Lemming höflich zu und meint dann, zu Leonie Wernle gewandt: «Es wird Zeit, wir müssen anfangen …»
Mit einem Mal beruhigen sich ihre flackernden Augenlider: Das stetige Zwinkern lässt nach, gefriert. Mit einem langen, kühlen Blick mustert sie den Neuankömmling, nimmt dann dem Lemming die Bouteille aus der Hand und leert sie mit einem Zug.
«Also, was ist?», setzt der Mann mit einem Anflug von Gereiztheit nach. «Kommst jetzt endlich, Schatzl?»
Es ist so weit: Die Fäden, die Stränge verschmelzen im Kopf des Lemming: Natürlich hat er die Stimme der Frau schon einmal gehört. Und auch die des Mannes: Mezzosopran und Bariton, akustisch noch immer vereint, auch wenn es sich seit gestern für sie ausgeschatzelt hat …
Ein zitterndes, zaghaftes Pfeifen durchflattert den Raum wie ein benommenes Insekt. Schraubt sich dann mühevoll hoch, will anschwellen, an Stärke gewinnen, gerät stattdessen ins Trudeln und bricht. Ein schrilles Krächzen, der Klarinettist ringt nach Atem, pumpt Luft in die runden, geröteten Backen und zuckt zusammen: Ansatzlos fährt ihm von rechts der Schrei der Trompete ins Ohr, schneidet ihm wütend den Ton ab, zerfetzt sein schüchternes Bemühen gnadenlos. Unsauber, dissonant kämpft sich das kreischende Blech eine albtraumhafte Skala entlang, als plötzlich von hinten die Tuba aufbegehrt: Voluminös, wie der Mann, der sie spielt, grölt sie dazwischen, boxt sich mit einer schier endlosen Serie kraftvoller Tiefschläge in den trompetischen Klangkörper. Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten: Die Trompete brüllt zurück, gerät aber bald schon ins Stocken, ins Stottern, verstummt mit beleidigtem Röcheln. Statt ihrer nimmt es nun die frisch erstarkte Klarinette mit der Tuba auf, zirpt und fiept keckernd gegen das Schwergewicht an, verteilt in rasendem Tanz ihre Nadelstiche. Zu guter Letzt ein jäher Tusch: Das Schlagzeug mischt sich ein. Arhythmisch, rüde und schroff, mit einem Wort: taktlos prügelt und drischt esauf die anderen ein, versucht sie – wenn auch erfolglos – zum Schweigen zu bringen …
Mit einer Mischung aus Betretenheit und Faszination betrachtet, belauscht der Lemming das Spiel. Er hat zwar solcherlei Konzerte nie begriffen, geschweige denn gemocht, aber jetzt – mit einem Mal – keimt eine Art Verständnis in ihm auf: Es geht hier nicht um Harmonien, Rhythmen oder Melodien, es geht ganz offenbar um Kommunikation. Ein Gespräch ohne Sprache, ein Diskurs ohne Worte, das ist, wie ihm scheint, das Wesen,
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