Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Schweigen des Lemming

Das Schweigen des Lemming

Titel: Das Schweigen des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
Vom Netzwerk:
füttert.
    «Jetzt red schon», drängt er Riedmüller, während er ihm den Mund und den Hemdkragen abwischt, «was genau hat er gesagt, der Pokorny?»
    «Er hat nicht gar so viel von sich gegeben; er hat nur gemeint, er sitzt irgendwo fest, mit gewissen Schwierigkeiten, die nur er selber lösen kann   …»
    «Und er hat nicht gesagt, welche Schwierigkeiten?»
    «Nein. Kein Wort. Ich hab ihm natürlich erzählt, dass du dich nach ihm erkundigt hast   …»
    «Und?»
    «Es hat ihn amüsiert; er hat gelacht. Dass du dich ganz schön ins Zeug legst, hat er gemeint, nur um nicht schon wieder seinen Nachtdienst übernehmen zu müssen   … Jedenfalls hat er sich tausendmal entschuldigt, dass er heut Abend verhindert ist.
Es wird trotzdem ein spannendes Konzert
, hat er gesagt.
Auch wenn der Pinguin seine Arche verlassen hat
…»

17
    Scheinwerfer flammen auf. Die Menge verstummt, weicht zurück, gibt einen Halbkreis frei. Kaum zwei Sekunden verstreichen, und schon betritt ein schlaksiger Mann mit strähnigem grauem Haar die solchermaßen entstandene, nur aus Stille, Erwartung und Licht gefertigteBühne. In ihrer Mitte baut er sich auf, den Kopf gesenkt, und starrt auf den Stapel eng beschriebener Blätter, den er in Händen hält. Hinter ihm, in der Dunkelheit, erkennt der Lemming die schimmernden Beschläge eines Schlagzeugs   … «Der Halbsund», raunt jetzt neben ihm eine Stimme, und gleich darauf eine andere: «Der Halbsund.» Wie ein schwelendes Feuer verbreitet sich die Kunde im Raum. Aus dem Nebenzimmer drängen weitere Menschen herein, neugierig, erwartungsvoll: «Halbsund   … Halbsund   …» Jeder hier scheint schon von dem hageren Mann gehört zu haben: Die schüchterne Frage des Lemming, wer denn dieser Halbsund sei, wird allseits mit pikierten Blicken und verständnislosem Kopfschütteln quittiert. Nur eine junge Frau mit Pferdeschwanz, die vor ihm steht, wendet sich um und zischt ihn mit unverhohlenem Ärger an: «Na, der Halbsund eben! Der Halbsund!»
    Ein kurzer, flüchtiger Blick in die Runde, und Doktor Gernot Halbsund beginnt seinen Vortrag. «Das Wuchern des Außen», meint er und streckt den Zeigefinger hoch, «die Schwellung des Fleisches und der Erde, kurz gesagt die unabwendbare Geste eines aus sich selbst erweckten Phänotypus: Das, meine Damen und Herren, ist das zentrale Konnotat der Riedmüller’schen Bildpoesie.» Halbsund legt eine Pause ein, hebt langsam den Kopf und lauscht mit geschlossenen Augen seinen Worten nach. «Kein ungestümes Fordern», fährt er dann fort, «schält sich aus diesen kataklystischen Strukturen, kein krudes Antragen, Anheimeln, Antun; nein, im verdichteten Gewand, in der latenten Behauptung des Soseins saugt sich das Andere, Fremde, das Du, saugt sich der Archetypus eines die Welt ertastenden Sinnwesens gleichsam von selbst fest   …»
    Zwei Minuten nur, und der Lemming gibt auf. Während die Blicke der übrigen Zuhörer gebannt an den Lippen Halbsunds kleben, sich also am Anderen, am Fremden, an derlatenten Behauptung des Soseins festsaugen, strebt das Lemming’sche Sinnwesen zu den Getränken hin. Und bald auch der Lemming’sche Körper. Die verzwirbelten Sätze Halbsunds begleiten ihn, als er sich durch die Menge kämpft, um das erste Achtel des heutigen Tages zu leeren.
    «Und doch entsagt hier die Fülle eines stets nur findenden und kaum noch suchenden Befindlichkeitsvokabulars jeglicher Lust am missionarischen Ungestüm   …»
    Wie leergefegt ist der Getränketisch; nur noch eine halb volle Flasche Wein steht darauf. Gerade streckt sich der Lemming danach aus, als sich von rechts eine Hand in sein Blickfeld schiebt und die Bouteille entschlossen ergreift. Eine zarte, wenn auch nicht eben saubere Frauenhand: Gelbe und orange Flecken kleben an den Fingern, unter den Nägeln schimmert ein bläuliches Grün.
    «Entschuldigen Sie   … Wollten Sie gerade?»
    Braune Haare, ein junges, schmales Gesicht. Durch die Gläser der ovalen Brille schimmern bernsteinfarbene Augen. Schöne Augen, wie der Lemming findet, wenn da nicht der stakkatoartige Lidschlag wäre, dieses Blinzeln im Sekundentakt, das ihn an das zuckende Ventil eines Druckkochtopfs erinnert. Und dann diese Stimme. Hell und klar, aber hörbar nervös: Ein leises, erregtes Vibrato schwingt mit, ein Zittern des Zwerchfells, das sich umso schwerer bändigen lässt, je mehr man es zu unterdrücken versucht.
    Irgendwo, denkt der Lemming, habe ich diese Stimme schon gehört   …
    «Möchten

Weitere Kostenlose Bücher