Das Schweigen des Sammlers
war. Zwei Bilder weiter blieb er vor einer besonders verschwiegenen Verkündigungsdarstellung stehen, wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah ihn an: »Jetzt, wo ihr im Krieg seid? Wie bist du überhaupt rausgekommen?«
»Ich kann ohne Probleme ein- und ausreisen. Ich habe meine Methode. Und meine Kontakte.«
Pater Morlins Geste war zu entnehmen, dass er es vorzog, keine Einzelheiten zu erfahren.
Es wurde ein langes Gespräch. Fèlix Ardèvols Plan war einleuchtend: Seit einigen Jahren sorgte Hitlers Politik dafür, dass vielen deutschen, österreichischen und polnischen Bürgern zunehmend mulmig wurde und sie daran dachten, auszuwandern.
»Du suchst reiche Juden.«
»Eine Flucht ist für einen Antiquitätenhändler immer ein gefundenes Fressen. Bringt mich mit Leuten zusammen, die vorhaben, nach Amerika zu gehen. Alles Weitere kannst du mir überlassen.«
Sie hatten das Ende des Korridors erreicht. Durch ein Fenster sah man auf einen kleinen nüchternen Hof, nur geschmückt von einer Reihe Blumentöpfe, in denen blutrote Geranien blühten. Es fiel Fèlix schwer, sich einen Dominikanermönch beim Gießen dieser Geranienreihe vorzustellen. Auf der anderen Seite des Hofs befand sich ein ähnliches Fenster, das die ferne Kuppel des Petersdoms perfekt einrahmte, als wäre es in ebendieser Absicht angebracht worden. Einen Augenblick lang dachte Fèlix Ardèvol, dass er dieses Fenster mitsamt seiner Aussicht am liebsten mitnehmen würde. Er war überzeugt, dass Morlin ihn dorthin geführt hatte, um ihm das Fenster zu zeigen, dann besann er sich: »Ich brauche drei oder vier Adressen mit Angabe der näheren Umstände.«
»Und wie kommst du darauf, lieber Ardevole, dass ich dir die beschaffen kann?«
»Ich habe meine Informationsquellen. Ich wende viel Zeit für meine Arbeit auf und weiß, dass du dein Kontaktnetz immer weiter ausgebaut hast.«
Pater Morlin steckte den Seitenhieb ein, ließ sich aber nichts anmerken. »Woher kommt dein plötzliches Interesse am Eigentum anderer?«
Fast hätte Ardèvol erwidert, weil mich meine Arbeit mit Leidenschaft erfüllt; weil sich die Welt für mich, sobald ich ein interessantes Objekt sehe, auf dieses Objekt reduziert, sei es eine Statue, ein Gemälde, eine Handschrift oder ein Stück Stoff. Und die Welt ist voll von Objekten, die dafür keiner Rechtfertigung bedürfen. Es gibt Objekte, die …
»Aus mir ist ein Sammler geworden«, sagte er und präzisierte: »Ich bin Sammler.«
»Sammler wovon?«
»Sammler.« Er breitete die Arme aus wie der heilige Dominikus auf der Kanzel. »Ich suche nach schönen Dingen.«
Natürlich hatte Pater Morlin Informationen. Wenn es einen Menschen auf der Welt gab, der über alles Bescheid wusste, ohne sich von Santa Sabina wegzubewegen, dann war es Pater Félix Morlin, der ein guter Freund und, wie es hieß, ein gefährlicher Gegner war. Ardevole war sein Freund, und so dauerte es nicht lange, bis sie einig wurden. Zuvor musstesich Fèlix Ardèvol noch ein Klagelied über die rauen Zeiten anhören, die sie durchleiden mussten, was er mit höflicher Zustimmung quittierte – das kann man wohl sagen, das kann man wohl sagen –, und von weitem sah es aus, als beteten sie gemeinsam einen Rosenkranz. Und die rauen Zeiten, die Europa durchlitt, zwangen viele Menschen, sich auf den Weg nach Amerika zu machen, und dank Pater Morlin verbrachte Fèlix Ardèvol einige Monate damit, durch das Europa vor dem Feuersturm zu reisen und die Möbel vor der anstehenden Erschütterung des Kontinents zu retten. Die erste Adresse war im Tiefen Graben in der Wiener Innenstadt: ein schönes Haus mit schmaler Front, aber anscheinend sehr weit nach hinten reichend. Er drückte auf die Klingel und lächelte die Frau, die ihm ein wenig argwöhnisch die Tür öffnete, gewinnend an. Bei diesem ersten Kontakt konnte er das gesamte Mobiliar erstehen, das er, nachdem er die fünf wertvollsten Stücke aussortiert hatte, für den doppelten Preis verkaufte, ohne Wien zu verlassen, praktisch ohne den Ring überqueren zu müssen. Ein so durchschlagender Erfolg hätte ihm zu Kopf steigen können, doch Fèlix Ardèvol war nicht nur klug, sondern auch schlau, und ging mit Vorsicht zu Werke. In Nürnberg kaufte er eine Gemäldesammlung aus dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, drei Rigauds, zwei Fragonards und einen verblassten Watteau. Und vermutlich die gelben Gardenien von Mignon, die er sofort beiseitelegte. In Pontegradella bei Ferrara hielt er zum ersten Mal
Weitere Kostenlose Bücher