Das Schweigen des Sammlers
ging nicht in Berdagués Laden, um eine Kleinigkeit für Tante Leo zu besorgen. Die erste Stunde saß sie vor ihrer Erdmandelmilch, und er musste andauernd schlucken. Sie redete und redete und erzählte mir all das, was Adrià nicht wusste oder vorgab, nicht zu wissen, denn obwohl ich schon zwanzig war, wurde zu Hause vieles totgeschwiegen. Und somit war sie es, die mir auf der Plaça Major von Tona mitteilte, dass mein Engel und ich Geschwister waren.
Ich sah sie verbüfft an. Es war das erste Mal, dass es jemand ausgesprochen hatte. Sie erriet meine Verwirrung.
»È vero«, bekräftigte sie.
»Das klingt nach Groschenroman.« Ich versuchte, mich locker zu geben.
Sie ging nicht darauf ein. Vielmehr erklärte sie mir, auch wenn sie dem Alter nach meine Mutter sein könnte, sei sie meine Halbschwester, und zeigte mir eine Geburtsurkunde oder ein ähnliches Dokument, auf dem Fèlix Ardèvol die Vaterschaft für eine gewisse Daniela Amato anerkannte, und das war sie, wie der Pass bestätigte, den sie mir zum Beweis ebenfalls vorlegte. Das heißt, sie hatte mich nicht nur erwartet, sondern auch die Geschichte und die Belege parat gehalten. Was mir schon lange schwante, aber von niemandem jemals bestätigt worden war, entsprach demnach der Wahrheit. Ich, das Einzelkind schlechthin, hatte eine ältere Schwester, eine sehr viel ältere. Und ich fühlte mich betrogen von meinem Vater, meiner Mutter, Lola Xica und all ihrer Geheimniskrämerei. Und ich glaube, es schmerzte mich, dass Sheriff Carson niedie geringste Andeutung gemacht hatte. Eine Schwester. Ich schaute sie wieder an: Sie war genau so hübsch wie damals, als sie wie ein Engel bei uns erschien, aber meine Schwester war eine Dame von sechsundvierzig Jahren. Wir hätten an den langweiligen Sonntagnachmittagen nicht zusammen spielen können. Sie wäre mit Lola Xicas Clique losgezogen und hätte sich beim Lachen den Mund zugehalten, wenn sie sich von einem Mann beobachtete fühlte.
»Aber du bist so alt wie meine Mutter«, sagte ich, um irgendetwas zu sagen.
»Etwas jünger«, antwortete sie, und ich bemerkte eine leichte Verstimmung in ihrem Ton.
Sie hieß Daniela. Und sie erzählte mir, dass ihre Mutter …, sie erzählte mir eine sehr schöne Liebesgeschichte. Es fiel mir schwer, mir meinen Vater verliebt vorzustellen, und so lauschte ich stumm, hörte zu, was sie erzählte, und versuchte, es mir vorzustellen. Ich weiß nicht mehr, wie sie darauf kam, aber sie sprach auch über das Verhältnis zwischen den beiden Brüdern, denn bevor mein Vater nach Vic aufs Priesterseminar ging, hatte er, bitte schön, lernen müssen, wie man Weizen worfelt, fachgerecht drischt und der Estrella den Bauch abtastet, um zu sehen, ob sie, verdammt noch mal, endlich trächtig war. Großvater Ardèvol hatte seinen beiden Söhnen beigebracht, die Tragekörbe sicher am Maultier festzuzurren, und dass die Wolken, wenn sie schwarz waren, aber aus Collsuspina kamen, immer vorbeizogen, ohne abzuregnen. Cinto, der Erbe, widmete sich den Angelegenheiten des Hofguts mit viel mehr Herzblut. Der Verwaltung der Ländereien, den Ernten und den Lohnkosten. Unser Vater hingegen war mit seinen Gedanken immer woanders, grübelte über irgendetwas nach oder saß in einer Ecke und las. Wie du. Als ihn seine Eltern, schon halb verzweifelt, nach Vic ins Priesterseminar schickten, war er, seinem Desinteresse zum Trotz, ein recht passabler Landwirt. Von da an war auch er mit Herzblut bei der Sache, als er nämlich anfing, Latein und Griechisch zu lernen, und die Geschichten der großen Lehrer hörte. In der Schule herrschte noch der Geist von Jacint Verdaguer, undzwei Drittel der Schüler übten sich im Verseschreiben. Unser Vater nicht: Er wollte in die Tiefen der Philosophie und der Theologie vordringen, die dort bruchstückhaft vermittelt wurden.
»Und woher weißt du das alles?«
»Er hatte es meiner Mutter erzählt. Als junger Mann war unser Vater sehr gesprächig. Später verwandelte er sich anscheinend in einen zugeklappten Regenschirm, in eine Mumie.«
»Und weiter?«
»Sie haben ihn nach Rom geschickt, weil er wohl sehr klug war. Dann hat er meine Mutter geschwängert und ist getürmt, weil er ein Feigling war. Dann kam ich zur Welt.«
»Mannomann …, der reinste Groschenroman«, wiederholte ich.
Statt böse zu werden, lächelte Daniela ihn hinreißend an und fuhr mit der Geschichte fort, indem sie sagte, und dann verkrachte sich unser Vater mit seinem Bruder.
»Mit Onkel
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