Das Schweigen des Sammlers
würden, und mich zusammenreißen, umnicht den Verwalter anzuschnauzen, denn in Auschwitz lebt jedermann hart an der Grenze seiner Kraft.«
»Ich denke, Ihre Erfahrung in Dachau …«
»Aus psychologischer Sicht ist das ein gewaltiger Unterschied. In Dachau hatten wir Gefangene.«
»Meines Wissens starben und sterben dort sehr viele.«
Dieser Doktor ist ein Idiot, dachte Höß. Anders kann man es nicht ausdrücken.
»Ja, aber Dachau ist ein Gefangenenlager, Auschwitz-Birkenau dagegen ist für die Ausrottung von Ungeziefer entworfen, berechnet und erbaut. Zum Glück sind Juden keine Menschen, sonst hätten wir hier das Gefühl, in einer Hölle zu leben, die nur eine Tür hat, nämlich die zur Gaskammer, und nur ein Ziel, nämlich die Krematorien oder die Gruben im Wald, in denen wir die überschüssigen Kadaver verbrennen, denn sie schicken uns so viel Material, dass wir gar nicht nachkommen. Das alles habe ich noch nie einem Außenstehenden erzählt, Doktor.«
Was dachte der sich eigentlich, dieser Blödmann?
»Sie tun gut daran, sich das Ganze mal von der Seele zu reden, Herr Obersturmbannführer.«
Es ist eine Wohltat, sich einmal Luft zu machen, wenn auch nur vor diesem dummen, eingebildeten Doktor, dachte Höß.
»Ich verlasse mich darauf, dass Sie sich an Ihre Schweigepflicht halten, denn wenn der Reichsführer …«
»Selbstverständlich. Für Sie als Christ ist ein Psychiater wie ein Beichtvater. Wie der Beichtvater, der Sie hätten werden können.«
»Meine Männer brauchen viel Kraft, um die ihnen übertragene Arbeit verrichten zu können. Vor ein paar Tagen ist ein Soldat von dreißig Jahren, kein Jungspund also, in der Baracke vor versammelter Mannschaft in Tränen ausgebrochen.«
»Was war passiert?«
»Bruno, Bruno, wach auf!«
Kaum zu glauben, aber nach dem zweiten Glas Wein fing Obersturmbannführer Rudolf Höß an, die ganze Geschichte noch einmal von vorn zu erzählen. Beim vierten oder fünften Glas wurde sein Blick glasig, er begann, Ungereimtheiten von sich zu geben, und schließlich rutschte ihm heraus, dass er sich in ein jüdisches Mädchen verguckt hatte. Der Doktor ließ sich nicht anmerken, wie schockiert er war, sah darin aber eine hochinteressante Information und somit eine für den Notfall zweckdienliche Waffe. Darum befragte er am nächsten Tag den Gefreiten Hänsch und bat ihn in wohlgesetzten Worten um Auskunft, von wem der Obersturmbannführer gesprochen habe. Sehr einfach: Er hatte sein Dienstmädchen gemeint. Und das schrieb Doktor Voigt in sein Eventualitätenbüchlein.
Einige Tage später fand wieder eine dieser grässlichen Selektionen statt. Von einem Unterstand aus verfolgte Doktor Voigt, wie die Soldaten den Frauen energisch klarmachten, dass sie ihre Kinder hergeben mussten. Während er zusah, wie Doktor Budden weisungsgemäß zehn Mädchen und Jungen aussuchte, fiel sein Blick auch auf eine hustende, weinende alte Frau. Er ging zu ihr.
»Was ist das?«
Er wollte nach dem Geigenkasten greifen, doch die verfluchte Alte wich einen Schritt zurück, und er dachte, wofür hältst du dich eigentlich, du Luder? Da sie den Kasten so fest umklammert hielt, dass er ihn ihr nicht entreißen konnte, zog Sturmbannführer Voigt die Pistole, zielte auf den faltigen, grauen Nacken der Frau und drückte ab; der leise Knall war in der allgemeinen Heulerei kaum zu hören. Und die Sau verspritzte den Geigenkasten. Der Doktor befahl seinem Gehilfen, ihn zu reinigen und sofort in sein Büro zu bringen. Dann steckte er die Pistole ein und schritt davon, gefolgt vom Blick vieler Augen, in denen das blanke Entsetzen stand.
»Hier ist das Ding«, sagte der Gehilfe wenige Minuten später und legte den Geigenkasten auf den Tisch. Er war von guter Qualität, deshalb war er Doktor Voigt auch aufgefallen. Ein guter Kasten barg für gewöhnlich kein schlechtes Instrument. Wer viel Geld für einen Kasten ausgab, hatte vorhersehr viel Geld für das Instrument ausgegeben. Und ein gutes Instrument nimmt man überall mit, überall.
»Brich das Schloss auf.«
»Wie denn, Herr Hauptmann?«
»Mir egal, mach schon.« Und besorgt fügte er rasch hinzu: »Aber nicht hineinschießen.«
Der Gehilfe des Hauptmanns benutzte ein regelwidriges Messer dafür, was der Hauptmann sogleich in seinem Eventualitätenbüchlein vermerkte. Er schickte ihn hinaus und klappte gespannt den Geigenkasten auf. Darin lag zwar ein Instrument, doch auf den ersten Blick schien es ihm nichts Besonderes … oder?,
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