Das Schweigen des Sammlers
Cadaqués.
»Du zeichnest sehr gut. Lass mich das von diesem Mann noch mal sehen.«
Sie legte das Porträt von Onkel Chaim wieder obenauf. Den Blick, die Falten, die traurige Ausstrahlung.
»Du sagst, das ist ein Onkel von dir?«
»Ja. Er ist tot.«
»Wann ist er gestorben?«
»Eigentlich ist er ein Onkel meiner Mutter. Ich habe ihn nicht gekannt. Besser gesagt, ich war noch sehr klein, als …«
»Und wie hast du …?«
»Nach einem Foto.«
»Warum hast du ihn gezeichnet?«
»Damit seine Geschichte nicht in Vergessenheit gerät.«
Sie standen Schlange vor dem Duschraum. Gavriloff, der während der gesamten Fahrt im Viehwaggon zwei kleine Mädchen warm gehalten hatte, die ganz allein waren, wandte sich an Doktor Epstein und sagte, sie schicken uns in den Tod, und Doktor Epstein antwortete flüsternd, damit ihn keiner von den anderen hörte, das sei unmöglich, er sei ja verrückt.
»Nein, die sind verrückt, Herr Doktor. Begreifen Sie das doch endlich!«
»Rein mit euch. Die Männer auf diese Seite. Ja, natürlich können die Kinder bei den Frauen bleiben.«
»Nein, nein, legt eure Kleider schön ordentlich zusammen und merkt euch die Nummer des Garderobenhakens für nachher, wenn ihr aus der Dusche kommt, verstanden?«
»Woher stammst du?«, fragte Onkel Chaim und sah dem, der ihnen die Anweisungen erteilte, in die Augen.
»Ihr dürft nicht mit uns sprechen.«
»Wer seid ihr denn? Ihr seid doch auch Juden, oder etwa nicht?«
»Es ist euch verboten, zum Kuckuck. Mach mir nicht das Leben schwer.« Dann schrie er: »Merkt euch die Nummer eures Hakens.«
Während sich die nackten Männer langsam auf den Duschraum zuschoben, in dem sich bereits eine Gruppe nackter Frauen befand, kam ein SS-Offizier mit schmalem Schnurrbart und trockenem Husten in die Umkleide und fragte, gibt es hier einen Arzt? Doktor Chaim Epstein tat einen Schritt in Richtung Dusche, doch Gavriloff neben ihm sagte, seien Sie nicht dumm, Herr Doktor, das könnte eine Chance für Sie sein.
»Halt den Mund.«
Da drehte sich Gavriloff um, zeigte auf Chaim Epsteins blassen Rücken und sagte auf Deutsch, er ist Arzt, Herr Oberleutnant; und Herr Epstein verfluchte seinen Schicksalsgenossen, der sich weiter auf den Duschraum zubewegte, ihm zuzwinkerte und leise einen Csárdás von Rózsavölgyi pfiff.
»Du bist Arzt?«, fragte der Offizier und baute sich vor Epstein auf.
»Ja«, sagte der ergeben und vor allem erschöpft. Und dabei war er noch nicht einmal fünfzig.
»Zieh dich an.«
Epstein kleidete sich langsam an, während die übrigen Männer in den Duschraum gingen, von den grau und müde dreinblickenden Aufsehern gegängelt wie Schafe.
Während der Jude sich anzog, ging der Offizier ungeduldig auf und ab. Er begann zu husten, vielleicht um die Entsetzensschreie zu übertönen, die aus dem Duschbereich drangen.
»Was ist das? Was ist da los?«
»Beeil dich, alles in Ordnung«, sagte der Offizier unruhig, während Epstein die Hose über das offene Hemd zog.
Er nahm ihn mit nach draußen in die unbarmherzige Kälte von Oświęcim, führte ihn in ein Schilderhaus und scheuchte die beiden Wachposten hinaus, die dort herumlungerten.
»Horchen Sie mich ab«, befahl er und drückte ihm ein Stethoskop in die Hand.
Noch wusste Epstein nicht, was der andere, der sich bereits das Hemd aufknöpfte, von ihm wollte. Bedächtig steckte er das Stethoskop in die Ohren und fühlte sich zum ersten Mal seit Drancy ein wenig wie eine Autorität.
»Setzen Sie sich«, sagte er und war wieder Arzt.
Der Offizier setzte sich auf den Schemel des Wachhäuschens. Chaim hörte ihn aufmerksam ab und machte sichanhand der Geräusche ein Bild von den verschleimten, versagenden Atemorganen. Er wies ihn an, eine andere Sitzposition einzunehmen, horchte ihm Brust und Rücken ab und ließ ihn wieder aufstehen. Solange er ihn auskultierte, würden sie ihn nicht in den Duschraum schicken, aus dem die Schreckensschreie kamen. Gavriloff hatte recht gehabt.
Es fiel ihm schwer, seine Genugtuung zu verbergen, als er seinem Patienten ins Gesicht sah und ihm mitteilte, er müsse ihn gründlicher untersuchen.
»Was meinst du damit?«
»Befund der Genitalien, Abtasten des Nierenbereichs.«
»Gut, gut, gut …«
»Haben Sie hier Schmerzen?«, fragte er und kniff mit seinen harten Fingern fest in die Niere.
»Vorsicht, verflucht noch mal!«
Doktor Epstein wiegte den Kopf und setzte eine besorgte Miene auf.
»Was ist los?«
»Sie leiden an Tuberkulose.«
»Bist
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