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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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habe etliche Freuden erlebt. Ich habe Augenblicke des Friedens genossen und unermessliche Dankbarkeit gegenüber der Welt oder einzelnen Menschen empfunden. Ich bin mit schönen Dingen und Gedanken in Berührung gekommen. Und gelegentlich spüre ich das Kribbeln, das der Besitz kostbarer Gegenstände verursacht, und dann verstehe ich die Sammelleidenschaft meines Vaters. Doch in meinem jugendlichen Unverstand lächelte ich damals nur herablassend und entgegnete, und wer sagt, dass ich verpflichtet bin, glücklich zu sein. Dann schwieg ich befriedigt.
    »Wie dumm du bist.«
    Ich starrte sie entgeistert an. Mit vier Worten hatte sie mich zu etwas gemacht, dessen man sich schämen musste. Und wütend fuhr ich sie an: »Ihr habt mich zu dem gemacht, was ich bin. Ich will studieren, unabhängig davon, ob ich glücklich werde oder nicht.«
    Adrià Ardèvol war ein solcher Klugscheißer. Könnte ich mein Leben noch einmal von vorn beginnen, würde ich als Erstes nach dem Glück suchen und es möglichst gut verpacken, um es mein ganzes Leben lang bei mir zu tragen. Ohne weitere Ansprüche. Hätte mir ein Sohn eine solche Antwort gegeben, wie ich sie meiner Mutter gegeben habe, hätte ich ihm eine Ohrfeige verpasst. Aber ich habe keinen Sohn. Ich war nur mein Leben lang Sohn. Sara, warum hast du nie Kinder gewollt?
    »Du willst nur fort von mir.«
    »Nein«, log ich. »Warum sollte ich?«
    »Du willst fliehen.«
    »Unsinn!«, log ich wieder. »Warum sollte ich?«
    »Warum erklärst du es mir dann nicht?«
    Nicht einmal volltrunken würde ich ihr von Sara erzählen, von meinem Verlangen, mich aufzulösen, neu zu beginnen, auf der Suche nach ihr ganz Paris auf den Kopf zu stellen, von meinen beiden vergeblichen Besuchen im Haus der Voltes-Epsteins, bis Saras Eltern mich beim dritten Mal eingelassen und mir in wohlgesetzten Worten erklärt hatten, dass ihre Tochter freiwillig nach Paris gezogen sei, um, so habe sie wörtlich gesagt, Abstand von Ihnen zu gewinnen, weil es ihr Ihretwegen sehr schlecht ging. Sie werden sich denken können, dass Sie in diesem Haus kein gern gesehener Gast sind.
    »Aber ich …«
    »Junger Mann, lassen Sie es gut sein. Wir haben nichts gegen Sie«, log Saras Vater, »aber verstehen Sie bitte, dass wir unsere Tochter beschützen müssen.«
    Ich verzweifelte und verstand überhaupt nichts mehr. Senyor Voltes erhob sich und forderte mich mit einer Handbewegung zum Gehen auf. Langsam gehorchte ich. Ich konnte die Tränen nicht zurückhalten, weil ich schon immer nah am Wasser gebaut hatte, doch sie fühlten sich an wie Schwefelsäure, die Furchen in meine gedemütigten Wangen ätzte.
    »Das muss ein Missverständnis sein.«
    »Den Eindruck haben wir nicht«, sagte Saras Mutter (groß, ehemals dunkles, jetzt leicht ergrautes Haar und dunkle Augen, wie ein Foto von Sara in dreißig Jahren) in ihrem gutturalen Katalanisch. »Sara will nichts mehr von Ihnen wissen. Nie wieder.«
    Schritt für Schritt ging ich auf die Wohnzimmertür zu, hielt aber noch einmal inne: »Hat sie keine Notiz, keinerlei Nachricht für mich hinterlassen?«
    »Nein.«
    Ich verließ die Wohnung, in der wir uns, als Sara mich noch liebte, manchmal heimlich aufgehalten hatten, ohne mich von diesen höflichen, aber unerbittlichen Herrschaften zu verabschieden. Leise fiel die Tür hinter mir ins Schloss, und ich blieb auf dem Treppenabsatz stehen, als könnte ich so noch eine Weile in Saras Nähe sein. Dann begann ich haltlos zu weinen.
    »Weder ergreife ich die Flucht, noch habe ich einen Grund dazu.« Ich machte eine Pause, um meinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen. »Hast du mich verstanden, Mutter?«
    Damit hatte ich meine Mutter zum dritten Mal angelogen.
    »Ich habe dich sehr gut verstanden.« Sie sah mir in die Augen. »Hör zu, Adrià.«
    Es war das erste Mal, dass sie mich nicht Sohn, sondern Adrià nannte. Das erste Mal in meinem Leben. Am zwölften April neunzehnhundertpaarundsechzig.
    »Ich höre.«
    »Wenn du nicht willst, brauchst du nicht zu arbeiten. Widme dich deiner Geige und deinen Büchern. Und wenn ich sterbe, holst du dir einen Geschäftsführer in den Laden.«
    »Sprich nicht vom Sterben. Und mit der Geige ist Schluss.«
    »Wie heißt das, wo du hinwillst?«
    »Tübingen.«
    »Wo ist das?«
    »In Deutschland.«
    »Und was hast du da verloren?«
    »Coseriu.«
    »Wer ist das?«
    »Du hängst wohl wirklich nur an der Uni herum, um Mädchen aufzureißen, was? Sprachwandeltheorie. System, Norm und Rede, sagt dir das

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