Das Schweigen des Sammlers
hat, ohne jede Erklärung …«
»Dann?«
»Dann ist sie ein mieses …«
»Untersteh dich, sie zu beleidigen. Verstanden?«
»Na schön, wenn du meinst.« Er blickte sich im Arbeitszimmer um und breitete die Arme aus. »Aber du siehst doch, wie sie dich verlassen hat. Wenigstens hätte sie auf einen schäbigen Zettel schreiben können, Adrià, mein Kleiner, ich habe einen Hübscheren gefunden. Teufel noch mal. So was macht man doch nicht!«
»Einen Hübscheren und Intelligenteren, ja, daran habe ich auch schon gedacht.«
»Hübschere als dich gibt es ja zuhauf. Aber intelligentere …?«
Schweigen. Ab und zu schüttelte Adrià verständnislos den Kopf.
»Gehen wir zu ihren Eltern und fragen wir sie, Senyors Voltes-Epstein, was zum Kuckuck geht hier vor? Was verschweigt man mir? Wo ist Sara? Was meinst du?«
Wir saßen im Arbeitszimmer meines Vater, das jetzt meines war. Adrià stand auf und ging zu der Wand, an der Jahre später dein Selbstbildnis hängen würde. Er lehnte sich dagegen, als wollte er Druck auf die Zukunft ausüben. Wieder schüttelte er den Kopf: Bernats Idee war nicht gerade erfolgversprechend.
»Soll ich die Chaconne für dich spielen?«, fragte Bernat versuchsweise.
»Ja. Spiel sie auf Vial.«
Bernat machte seine Sache sehr gut. Trotz seiner Traurigkeit und seiner Bedrängnis hörte Adrià seinem Freund aufmerksam zu und gelangte zu dem Schluss, dass Bernat zwar korrekt gespielt hatte, es jedoch manchmal nicht schaffte, bis ins Innerste der Dinge vorzudringen. Er hatte etwas an sich, das ihn hinderte, wahrhaftig zu sein. Und ich konnte es trotz meines Kummers nicht lassen, sein Spiel ästhetisch zu analysieren.
»Geht es dir besser?«, fragte Bernat, als er geendet hatte.
»Ja.«
»Hat es dir gefallen?«
»Nein.«
Ich hätte den Mund halten sollen, ich weiß. Aber ich bin außerstande. Darin bin ich wie meine Mutter.
»Was heißt nein?« Sogar seine Stimme klang plötzlich anders, höher, wachsam, aufgeschreckt.
»Schon gut, ich hab nichts gesagt.«
»Nein, es interessiert mich sehr.«
»Na schön, soll mir recht sein.«
Lola Xica war im hinteren Teil der Wohnung, Mutter im Laden. Adrià ließ sich aufs Sofa fallen. Bernat, die Storioni im Arm, stand vor ihm in Erwartung seines Urteils, und Adrià sagte, aaaalso, technisch gesehen war es perfekt oder beinahe perfekt; aber du dringst nicht bis ins Innerste der Dinge vor; ich habe das Gefühl, du hast Angst vor der Wahrheit.
»Du spinnst ja. Was heißt denn Wahrheit?«
»Ich weiß es doch selbst nicht. Aber ich erkenne sie, wenn ich sie höre. Und bei dir erkenne ich sie nicht. Ich erkenne sie in der Musik und in der Poesie. Und in Erzählungen. Und in Gemälden. Aber nur gelegentlich.«
»Du bist nur neidisch.«
»Ja. Ich gebe zu, ich beneide dich darum, dass du dieses Stück spielen kannst.«
»Tja. Sieh mal zu, wie du dich da wieder rauslavierst.«
»Aber ich beneide dich nicht darum, wie du es spielst.«
»Menschenskind, jetzt wirst du aber giftig.«
»Es muss dein Ziel sein, diese Wahrheit einzufangen und zum Ausdruck zu bringen.«
»Oho.«
»Damit hast du wenigstens ein Ziel. Ich nicht.«
So endete dieser freundschaftliche Abend, an dem Bernat den niedergeschlagenen Adrià hatte aufrichten wollen, in einem dumpfen Streit über Ästhetik und Wahrhaftigheit. Du kannst mir den Buckel runterrutschen, hörst du, rutsch mir den Buckel runter! Jetzt verstehe ich, warum sich diese Sara Voltes-Epstein verpisst hat. Und Bernat ging und knallte die Tür hinter sich zu. Sekunden später streckte Lola Xica den Kopf ins Arbeitszimmer und fragte, was ist passiert?
»Nichts, Bernat war in Eile, wie immer, du kennst ihn doch.«
Lola Xica sah Adrià an, der angelegentlich die Geige betrachtete, um nicht trostlos ins Leere zu starren. Lola Xica wollte etwas sagen, hielt sich aber zurück. Adrià bemerkte, dass sie noch immer in der Tür stand und sich anscheinend gern mit ihm unterhalten hätte.
»Was ist?«, sagte er, offensichtlich nicht erpicht auf einen Plausch.
»Nichts. Weißt du was? Ich werde das Abendessen vorbereiten, sicher kommt deine Mutter bald heim.«
Sie ging aus dem Zimmer, und ich begann die Geige zu reinigen und fühlte mich traurig bis ins Mark.
23
»Du bist übergeschnappt, mein Sohn.«
Die Mutter setzte sich in den Sessel, in dem sie immer Kaffee trank. Adrià hätte das Thema nicht ungeschickter zur Sprache bringen können. Manchmal wundere ich mich, dass sie mich nicht öfter zum Teufel gejagt
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