Das Schweigen des Sammlers
hat. Anstatt zu sagen, Mutter, ich habe beschlossen, in Tübingen weiterzustudieren, worauf sie geantwortet hätte, in Deutschland? Fühlst du dich denn nicht wohl hier, Junge?, sagte ich, Mutter, ich muss dir etwas sagen.
»Was denn?« Erschrocken setzte sie sich in den Sessel, in dem sie immer beim Kaffeetrinken saß; erschrocken, weil wir seit Jahren zusammenleben, ohne das Bedürfnis, uns viel zu sagen, vor allem aber ohne das Bedürfnis zu sagen, Mutter, ich muss dir etwas sagen.
»Nun ja, ich habe mich vor einiger Zeit mit einer gewissen Daniela Amato unterhalten.«
»Mit wem hast du dich unterhalten?«
»Mit meiner Halbschwester.«
Mutter sprang auf wie von der Tarantel gestochen. Schon hatte ich sie für den Rest der Unterhaltung gegen mich: Du bist ein Kindskopf, der keine Ahnung hat, wie es zugeht auf der Welt. Du hast überhaupt keine Halbschwester.
»Dass ihr sie mir vorenthalten habt, heißt nicht, dass es sie nicht gibt. Daniela Amato aus Rom. Ich habe ihre Telefonnummer und ihre Adresse.«
»Was ist das für eine Verschwörung?«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Dieser Gaunerin darfst du nicht trauen.«
»Sie sagt, sie wäre gern Teilhaberin des Ladens.«
»Weißt du, dass sie dir Can Casic gestohlen hat?«
»Wenn ich es richtig verstanden habe, hat Vater es ihr geschenkt. Sie hat mir nichts gestohlen.«
»Sie ist wie ein Vampir. Sie will uns den Laden wegnehmen.«
»Nein. Sie will Teilhaberin werden.«
»Warum glaubst du wohl, dass sie das will?«
»Ich weiß es nicht. Weil er Vater gehört hat?«
»Jetzt gehört er jedenfalls mir, und meine Antwort auf jeden Vorschlag dieser aufgetakelten Schnepfe ist nein.«
Oje, das war kein guter Einstieg gewesen. Sie sagte nicht Hure und auch nicht bbeschissen, wie bei jenem anderen Mal, das ich sie hatte fluchen hören. Mir gefiel die gewählte Ausdrucksweise meiner Mutter. Mit langen Schritten wanderte sie stumm im Esszimmer auf und ab und überlegte, ob sie mit ihren Schmähungen fortfahren sollte oder lieber nicht. Sie entschied sich für lieber nicht:
»Ist das alles, was du mir sagen wolltest?«
»Nein. Ich wollte dir auch noch sagen, dass ich ausziehe.«
Mutter setzte sich wieder in den Sessel, in dem sie immer Kaffee trank. »Du bist übergeschnappt, mein Sohn.« Schweigen. Nervöse Hände. »Hier hast du doch alles. Was habe ich dir getan?«
»Nichts. Warum solltest du mir etwas getan haben?«
Ihre Hände flatterten vor Nervosität, bis sie tief durchatmete, um sich zu beruhigen, und beide Hände flach auf den Schoß legte.
»Und der Laden? Willst du denn nicht irgendwann die Verantwortung dafür übernehmen?«
»Das reizt mich nicht.«
»Schwindler. Es ist dein Lieblingsplatz.«
»Nein. Ich mag die Sachen im Laden. Aber die Arbeit …«
Sie sah mich an, wie mir schien, mit leichtem Groll.
»Du musst mir einfach widersprechen. Wie immer.«
Warum haben meine Mutter und ich uns nie geliebt? Es ist mir ein Rätsel. Mein Leben lang habe ich Kinder beneidet, die sagen konnten, autsch, Mama, mein Knie tut weh, und die Mutter verscheuchte den Schmerz mit einem simplen Kuss. Meine Mutter hatte solche Kräfte nicht. Wenn ich es wagte, ihr zu sagen, mein Knie tut weh, versuchte sie erstgar nicht, selbst das Wunder zu bewirken, sondern beauftragte Lola Xica damit, während sie ungeduldig darauf wartete, dass meine intellektuelle Superbegabung endlich andere Arten von Wundern zeitigte.
»Fühlst du dich denn nicht wohl hier?«
»Ich habe beschlossen, in Tübingen weiterzustudieren.«
»In Deutschland? Fühlst du dich denn nicht wohl hier?«
»Ich will die Vorlesungen von Wilhelm Nestle hören.«
Um ehrlich zu sein, hatte ich keine Ahnung, ob Nestle noch unterrichtete. Im Grunde wusste ich nicht einmal, ob er überhaupt noch lebte. Tatsächlich war er zu der Zeit, als wir von ihm sprachen, seit über acht Jahren tot. Aber es stimmte, dass er in Tübingen gelehrt hatte, und deshalb wollte ich in Tübingen studieren.
»Wer ist das?«
»Ein Philosophiehistoriker. Außerdem möchte ich Coseriu kennenlernen.«
Das war nicht gelogen. Er hatte den Ruf, unerträglich, aber genial zu sein.
»Wer ist das?«
»Ein Linguist. Einer der größten Philologen des Jahrhunderts.«
»Diese Studien werden dich nicht glücklich machen, mein Sohn.«
Nun ja, rückblickend muss ich ihr wohl recht geben. Nichts hat mich je wirklich glücklich gemacht, außer dir, der Person, die mir das größte Leid zugefügt hat. Ich war dem Glück oft nah; ich
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