Das Schweigen des Sammlers
Tage versäumte Adrià kein einziges Mal ihre Verabredung um acht, wartete bei Sonne und Regen an der Haltestelle und wünschte sich, Sara würde sagen, hallo, da bin ich wieder, oder ich wollte nur mal prüfen, ob du mich wirklich liebst, oder was auch immer; mal sehen, ob sie auftaucht, ehe die fünfte Straßenbahn kommt. Bis er am elften Tag, kaum dass er die Haltestelle erreicht hatte, beschloss, dass er jetzt genug Straßenbahnen hatte anhalten sehen, die ohne Sara und ihn wieder abgefahren waren. Und ich ging nie wieder zu dieser Haltestelle, Sara. Nie wieder.
Im Konservatorium erschwindelte ich mir die Adresse von Maestro Castells, der lange Zeit ihr Lehrer gewesen war. Da sie außerdem miteinander verwandt waren, vermutete ich, dass er Saras Pariser Anschrift kannte. Wenn sie in Paris war. Wenn sie noch lebte. Maestro Castells’ Türklingel war ein C-F-Intervall. Ungeduldig ertönte es C-F, C-F, C-F, dann nahm ich den Finger vom Knopf, weil ich über meinen Mangel an Selbstbeherrschung erschrak. Oder nein, in Wahrheit wollte ich nur vermeiden, Maestro Castells zu verärgern, damit er nicht zu mir sagte, einem so ungezogenen Jungen verrate iches nicht. Niemand öffnete, niemand gab mir Saras Adresse und wünschte mir Glück.
»C-F, C-F, C-F.«
Nichts. Nach einigen Minuten beharrlichen Läutens blickte Adrià um sich und überlegte. Dann klingelte er bei den Nachbarn auf derselben Etage, und ihre Klingel gab ein unpersönliches, hässliches Rasseln von sich, wie unsere zu Hause. Im nächsten Augenblick, als hätte sie schon seit einer Weile darauf gewartet, öffnete ihm eine dicke Frau in einem blauen Kittel, über dem sie eine geblümte Küchenschürze trug. Ein böser Blick. Herausfordernd in die Hüften gestützte Hände.
»Was wollen Sie?«
»Wissen Sie, ob …« Er wies mit dem Kopf hinter sich auf die Tür von Maestro Castells.
»Der Pianist?«
»Genau.«
»Der ist Gott sei Dank gestorben …« Sie wandte den Kopf nach hinten und rief: »Wie lange ist das her, Taio?«
»Sechs Monate, zwölf Tage und drei Stunden!«, antwortete von weitem eine heisere Stimme.
»Sechs Monate, zwölf Tage und …« Wieder rief sie nach hinten: »Wie viele Stunden?«
»Drei!«, gab die heisere Stimme zurück.
»Und drei Stunden«, wiederholte die Frau für Adrià. »Und Gott sei Dank haben wir jetzt unsere Ruhe und können ungestört Radio hören. Sie haben ja keine Ahnung, wie der auf dem Klavier herumgehämmert hat, tagtäglich, zu jeder Tages- und Nachtzeit.« Und als fiele ihr plötzlich etwas ein: »Was wollen Sie von ihm?«
»Hatte er …«
»Angehörige?«
»Ja.«
»Nein. Er lebte allein.« Laut sagte sie in die Wohnung hinein: »Verwandtschaft hatte der keine, stimmt’s?«
»Nein, nur das elende, vermaledeite, gottverfluchte Scheißklavier!«, ertönte Taios heisere Stimme.
»Und in Paris?«
»In Paris?«
»Ja, seine Verwandten in Paris …«
»Keine Ahnung.« Ungläubig: »Der soll Verwandte in Paris gehabt haben?«
»Ja.«
»Davon weiß ich nichts.« Und zusammenfassend sagte sie noch: »Jedenfalls ist er tot, mausetot.«
Als Adrià wieder allein unter der flackernden Glühbirne auf dem Treppenabsatz stand, wusste er, dass seine Möglichkeiten damit erschöpft waren, und es begann eine schlimme Zeit für ihn. Nachts träumte er, er reiste nach Paris und finge mitten auf der Straße an, nach ihr zu rufen, doch der Verkehrslärm übertönte sein verzweifeltes Geschrei, und er erwachte schweißgebadet, schluchzend und ohne die Welt zu verstehen, die ihm vor kurzem noch so schön erschienen war. Wochenlang verließ er das Haus nicht. Er spielte auf der Storioni, und es gelang ihm, ihr tieftraurige Töne zu entlocken, doch seine Finger waren lustlos. Er wollte Nestles Buch noch einmal lesen, konnte aber nicht. So sehr ihn Euripides’ Reise von der Rhetorik zur Wahrheit bei der ersten Lektüre berührt hatte, so wenig empfand er jetzt dabei. Euripides war Sara. In einem hatte Euripides recht: Die menschliche Vernunft kommt gegen die irrationalen Kräfte der Psyche nicht an. Ich kann nicht lernen, ich kann nicht denken. Ich muss dauernd weinen. Bernat, komm zu mir.
Noch nie hatte Bernat seinen Freund so niedergeschlagen erlebt. Es erschreckte ihn zu sehen, wie tief Seelenschmerz sein konnte. Und ohne dass er selbst Erfahrung mit Liebeskummer gehabt hätte, versuchte er ihm zu helfen und sagte, sieh es doch mal so, Adrià.
»Wie denn?«
»Also, wenn sie sich einfach so aus dem Staub gemacht
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