Das Schweigen des Sammlers
hat keine Immatrikulation übertragen. Wer sind Sie?«
»Und dann hat sie mir die Tür vor der Nase zugeschlagen. Bumm!«
»Sie hat dich durchschaut.«
»Ja.«
»Scheiße.«
»Ja.«
»Danke, Bernat.«
»Ich fühle mich so … Ich hätte mich nicht so dumm anstellen dürfen.«
»Nein, nein. Du hast getan, was du konntest.«
»Ich könnte mich schwarzärgern.«
Nach einem längeren bedrückten Schweigen sagte Adrià, es tut mir leid, aber ich glaube, ich muss ein bisschen weinen.
Bernats Examen endete mit unserer Chaconne aus der zweiten Suite. Ich hatte sie so oft von ihm gehört … Und immer hatte ich etwas dazu zu sagen, als wäre ich der Virtuose und er der Schüler. Er hatte angefangen, sie einzustudieren, nachdem wir sie im Palau de la Música von Heifetz gehört hatten. Gut. Perfekt. Aber wieder ohne Seele, was vielleicht daran lag, dass er aufgeregt war. Ohne Seele, als hätte die letzte Probe bei mir zu Hause vor kaum vierundzwanzig Stunden nur in meiner Einbildung stattgefunden. Wenn Bernat vor Publikum stand, versiegte sein schöpferischer Quell, dann fehlte ihm der göttliche Hauch, was er durch Eifer und Disziplin wettzumachen versuchte, und das Resultat war gut, aber zu vorhersehbar. Genau das war’s: Mein bester Freund war so verflixt vorhersehbar, selbst in seinen Attacken.
Zum Schluss war er nass geschwitzt und wohl ziemlich sicher, es geschafft zu haben. Die Prüfungskommission, die während der zwei Stunden, die er gespielt hatte, mit säuerlicher Miene zugehört hatte, beriet sich einen Moment und gab ihm dann einstimmig eine Eins und einen persönlichen Händedruck aller drei Mitglieder. Und die Trullols, die im Publikum gesessen hatte, wartete ab, bis Bernats Mutter ihn umarmt und all das getan hatte, was Mütter, die nicht so sind wie meine, nun einmal tun, und dann küsste sie ihn auf die Wange, tief gerührt, wie es bei Lehrern manchmal vorkommt, und ich hörte, wie sie zu ihm sagte, du bist der Beste, den ich je hatte. Du hast eine glänzende Zukunft vor dir.
»Spitzenklasse«, sagte Adrià.
Bernat hörte auf, seinen Bogen zu entspannen, und blickte seinen Freund an. Schweigend legte er den Bogen in den Geigenkasten und klappte ihn zu. Adrià versicherte ihm noch einmal: Ausgezeichnet, mein Lieber, Glückwünsch!
»Gestern habe ich dir gesagt, dass ich dein Freund bin. Dass du mein Freund bist.«
»Ja. Dein engster Freund, hast du gesagt.«
»Genau. Seinen engsten Freund lügt man nicht an.«
»Wie bitte?«
»Ich habe mein Soll erfüllt, weiter nichts. Mir fehlt es an Schwung.«
»Heute hast du deine Sache gut gemacht.«
»Du hättest es besser gemacht als ich.«
»Was redest du da? Ich habe seit zwei Jahren keine Geige angefasst.«
»Und dieser Drecksack von bestem Freund ist nicht imstande, mir die Wahrheit zu sagen, sondern benimmt sich lieber wie alle anderen auch …«
»Was soll das?«
»Lüg mich nie wieder an, Adrià.« Er trocknete sich die Stirn ab. »Ich finde deine Kommentare ärgerlich und gemein.«
»Na ja, ich …«
»Aber ich weiß ja, dass du mir als Einziger die Wahrheit sagst.« Er zwinkerte Adrià zu und sagte auf Deutsch: »Auf Wiedersehen.«
Als ich die Zugfahrkarte in der Hand hielt, begriff ich, dass in Tübingen zu studieren viel mehr bedeutete, als an die Zukunft zu denken. Es bedeutete das Ende meiner Kindheit; es bedeutete, mein Arkadien hinter mir zu lassen. Ja, ja, ich war ein einsames, unglückliches Kind mit gefühllosen Eltern, die nur meine Intelligenz im Blick hatten und denen es nicht in den Sinn kam, dass ich mich für den Tibidado interessieren könnte und die Automaten sehen wollte, die sich bewegten wie Menschen, wenn man eine Münze hineinsteckte. Aber als Kind hat man die Fähigkeit, den Duft der Blume wahrzunehmen, die im giftigen Schlamm blüht. Und glücklich zu sein mit diesem fünfachsigen Lastwagen, der aus einer Schachtel für Damenhüte bestand. Als ich die Fahrkarte nach Stuttgart kaufte, wusste ich, dass die Zeit der Unschuld vorbei war.
IV Palimpsestus
Es gibt keine Organisation, die vor einem Sandkorn geschützt wäre.
MICHEL TOURNIER
24
Vor langer Zeit, als die Erde noch eine Scheibe war und kühne Seefahrer am Rand der Welt im kalten Nebel zerschellten oder in den finsteren Abgrund stürzten, lebte ein braver Mann, der beschloss, sein Leben in den Dienst Gottes zu stellen. Er hieß Nicolau Eimeric, war Katalane und hatte sich im Dominikanerorden von Girona als Professor der heiligen
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