Das Schweigen des Sammlers
geweigert hatte, seine Reue durch die Zuwendung zum wahren Glauben zubekunden, wodurch er zwar nicht seinen Körper, wohl aber seine Seele gerettet hätte. Und nachdem Fra Nicolau das Urteil durch seine Unterschrift besiegelt hatte, ermahnte er Fra Miquel: »Denkt daran, dass dem Beklagten zuvor die Zunge herauszuschneiden ist.«
»Genügt nicht auch der Knebel, Exzellenz?«
»Dem Beschuldigten ist zuvor die Zunge herauszuschneiden«, beharrte Fra Nicolau geduldig. »Und ich werde keine Nachlässigkeit dulden.«
»Aber Exzellenz …«
»Die sind mit allen Wassern gewaschen, zerbeißen den Knebel … Und ich will, dass die Ketzer stumm sind, wenn sie zum Scheiterhaufen geführt werden, denn ansonsten könnten sie die Andacht der Anwesenden durch Flüche und Gotteslästereien stören.«
»Es ist hier noch nie vorgekommen, dass …«
»In Lleida schon. Und solange ich in Amt und Würden bin, werde ich das niemals dulden.« Er starrte ihn aus schwarzen Augen an, dass es wehtat, und wiederholte leiser: »Niemals dulde ich das.« Und dann laut: »Seht mir gefälligst in die Augen, wenn ich mit Euch rede, Fra Miquel! Niemals.«
Er stand auf und stürmte hinaus, ohne einen der Anwesenden noch einmal anzusehen, denn er war zum Abendessen im Bischofspalast eingeladen und schon spät dran; überdies quälten ihn die Kopfschmerzen und das Fieber.
Draußen war der Wolkenbruch wegen der extremen Kälte in dichten, lautlosen Schneefall übergegangen. Drinnen betrachtete er die opalisierende Farbe des Weins in seinem erhobenen Glas und sagte zu seinem Gastgeber, ja, ich wurde im Schoß einer wohlhabenden, streng religiösen Familie geboren, und es war die moralische Geradheit meiner Erziehung, die meine unbedeutende Person befähigt hat, auf direkten Befehl des Führers und nach konkreten Anweisungen von Reichsführer Himmler die schwere Bürde auf mich zu nehmen und zu einem unverbrüchlichen Bollwerk gegen den Feind unseres Vaterlandes zu werden. Dieser Wein ist ausgezeichnet, Herr Doktor.
»Danke. Es ist mir eine Ehre, ihn Ihnen in meinem provisorischen Heim kredenzen zu dürfen.«
»Provisorisch, aber gemütlich.«
Ein zweiter Schluck. Draußen bedeckte der Schnee bereits die Blöße der Erde mit einer züchtigen, dicken, kalten Decke. Der Wein wärmte angenehm. Obersturmbannführer Rudolf Höß, geboren in Girona im verregneten Herbst des Jahres 1320 – in jener fernen Zeit, als die Erde eine Scheibe war und die wagemutigen Seefahrer, die, von Neugier und Phantasie getrieben, den Rand der Welt erkunden wollten, vollkommen überwältigt waren –, war besonders stolz darauf, den Wein in trauter Gesellschaft des geschätzten und angesehenen Doktor Voigt zu trinken, und konnte es kaum erwarten, dies wie nebenbei vor den Kollegen erwähnen zu können. Das Leben war schön. Vor allem jetzt, da die Erde wieder eine Scheibe war und sie unter dem ruhigen Blick des Führers der Menschheit zeigten, wo Stärke und Macht, Wahrheit und Zukunft lagen und dass die vollkommene Verwirklichung eines Ideals mit jeglicher Form von Mitleid unvereinbar war. Die Macht des Reichs war bereits grenzenlos und ließ die Taten sämtlicher Eimerics der Geschichte wie die Spielereien von Kindern erscheinen. Der Wein verhalf ihm zu der sublimen Bemerkung: »Befehle sind mir heilig, so schwer sie mir auch vorkommen mögen, denn als SS-Mann muss ich bereit sein, mich in Erfüllung meiner Pflicht mit Leib und Seele für das Vaterland aufzuopfern. Deshalb bin ich 1334, im Alter von vierzehn Jahren, in meiner Heimatstadt Girona in den Dominikanerorden eingetreten und habe mein ganzes Leben der Aufgabe gewidmet, den Glanz der Wahrheit erstrahlen zu lassen. Man nennt mich grausam, König Pere hasst mich, beneidet mich und würde mich am liebsten vernichten, aber das berührt mich nicht. Vor dem Glauben gilt mir weder König noch Vater, ich achte weder meine Mutter noch meine Vorfahren, denn über allem anderen diene ich der Wahrheit. Aus meinem Mund, Euer Gnaden, werdet Ihr nichts als die Wahrheit hören.«
Der Bischof höchstpersönlich schenkte Fra Nicolau nach,und dieser nahm einen Schluck, ohne zu merken, was er trank, weil er erregt immer weiter schwadronierte, und dann wurde ich verbannt und auf Befehl König Peres meines Amtes als Großinquisitor enthoben, und als ich hier in Girona zum Generalvikar des Dominikanerordens ernannt wurde, hat dieser verfluchte König – wie Ihr vielleicht nicht wisst – Papst Urban unter Druck gesetzt, bis dieser
Weitere Kostenlose Bücher