Das Schweigen des Sammlers
Normalste von der Welt, nachdem man sich ewige Liebe – oder doch fast – geschworen und miteinander geschlafen hatte, sich eine neue Erfahrung zu schnappen und wenn man sich begegnete, hallo zu sagen und dann weiter die Würstchenkarte zu studieren. Ich konnte mich nicht beherrschen und sagte im Vorbeigehen, die Bratwurst hier ist sehr gut, Fräulein. Und ich hörte die Erfahrung in umwerfendem Bayerisch noch fragen, wer ist denn der Kerl mit der Bratwurst? Kornelias Antwort hörte ich nicht, weil ein paar Kellnerinnen mit vollen Tabletts mich in Richtung Toilette drängten.
Wir mussten über den mit Eisenspitzen bewehrten Zaun klettern, um bei Nacht auf dem Friedhof spazieren gehen zu können. Es war bitterkalt, aber das tat uns beiden gut, denn wir hatten – er über seiner Kammermusik und ich wegen der neuen Erfahrungen – literweise Bier getrunken. Ich erzählte ihm von meinem Hebräischunterricht, von den Philosophieseminaren, die ich in mein Studium einschob, und von dem Entschluss, für den Rest meines Lebens zu studieren, und wenn ich an der Universität unterrichten kann, phantastisch, aber wenn nicht, werde ich Privatgelehrter.
»Und womit willst du deinen Lebensunterhalt verdienen? Wenn du das überhaupt nötig hast.«
»Ich kann ja immer zum Abendessen zu dir kommen.«
»Wie viele Sprachen sprichst du?«
»Und du lässt das Geigespielen nicht sausen.«
»Ich bin kurz davor.«
»Und warum hast du sie dann mitgebracht?«
»Für Fingerübungen. Sonntag spiele ich bei Tecla zu Hause.«
»Ist doch prima, oder?«
»Ja. Und aufregend. Ich muss ihre Eltern beeindrucken.«
»Was werdet ihr denn spielen?«
»César Franck.«
Eine Minute lang dachte ich, und sicher auch er, an den Beginn der Sonate von Franck, dieses Zwiegespräch zwischen zwei Instrumenten, das in seiner Eleganz der Auftakt zu einem Hochgenuss war.
»Mir tut es leid, dass ich mit dem Geigespielen aufgehört habe«, sagte ich.
»Zu spät, um dich zu beschweren, alte Schwuchtel.«
»Ich sage das bloß, damit du es nicht in ein paar Monaten bereust und mich dann verfluchst, weil ich dich nicht gewarnt hätte.«
»Ich denke, ich will lieber Schriftsteller sein.«
»Ich finde es völlig in Ordnung, dass du schreibst. Aber deswegen musst du doch nicht auf …«
»Würdest du verdammt noch mal endlich aufhören, mich ständig zu bevormunden?«
»Du kannst mich mal.«
»Hast du was von Sara gehört?«
Schweigend gingen wir bis zum Ende des Wegs und blieben am Grab eines gewissen Franz Grübbe stehen. Ich merkte, dass es gut gewesen war, ihm nichts von Kornelia und meinem Kummer zu erzählen. Schon damals war es mir sehr wichtig, welchen Eindruck ich auf andere machte.
Bernat sah mich forschend an, wiederholte aber seine Frage nicht. Es war so schneidend kalt, dass mir die Augen tränten.
»Wer ist dieser Grübbe?«
Adrià betrachtete nachdenklich das grobe Kreuz.
Franz Grübbe, 1918-1943. Mit zitternder, wütender Hand schob Lothar Grübbe eine Brombeerranke beiseite, die jemand dort abgelegt hatte, wie um ihn zu kränken. Die Dornen rissen ihm die Haut auf, aber er merkte es nicht, weilsein Denken seit einiger Zeit gänzlich von seinem Unglück in Anspruch genommen war. Liebevoll legte er einen Strauß Rosen auf das Grab, weiß wie die Seele seines Sohnes.
»Du reitest dich noch ins Verderben«, sagte Herta, die trotz allem darauf bestanden hatte mitzukommen. »Diese Blumen erregen Aufmerksamkeit.«
»Ich habe nichts zu verlieren.« Lothar richtete sich auf. »Im Gegenteil: Ich bin ja reich belohnt durch den Heldentod meines tapferen Sohnes.«
Er sah sich um. Sein Atem stand als dichte weiße Wolke vor seinem Mund. Er wusste, dass die Rosen, ein Aufschrei der Empörung, schon am Abend erfroren sein würden. Aber es war nun einen Monat her, dass sie Franz symbolisch hier begraben hatten, und er hatte Anna versprochen, ihm am sechzehnten jedes Monats Blumen zu bringen, solange er noch laufen konnte. Es war das Mindeste, was er für seinen Sohn, den Helden und Märtyrer, tun konnte.
»War das jemand Wichtiges, dieser Grübbe?«
»Hm?«
»Warum bleibst du gerade hier stehen?«
»Franz Grübbe, neunzehnhundertachtzehn bis neunzehnhundertdreiundvierzig.«
»Wer ist das?«
»Keine Ahnung.«
»Meine Güte, ist es kalt hier in Tübingen! Ist das immer so?«
Lothar Grübbe hatte Hitlers Machtergreifung mürrisch schweigend mit ansehen müssen und sich auch seinen Nachbarn gegenüber mürrisch und schweigsam gezeigt; die
Weitere Kostenlose Bücher