Das Schweigen des Sammlers
Bruder dieses Namens. Was wollt Ihr von ihm?«
»Es ist etwas Persönliches, Hochwürdigster Vater. Eine Familienangelegenheit. Eine sehr wichtige.«
»Dann habt Ihr diese Reise vergebens gemacht.«
»Bevor er in den Benediktinerorden eintrat, war er einige Jahre lang Laienbruder bei den Dominikanern.«
»Jetzt weiß ich, wen Ihr meint«, unterbrach ihn der Abt. »Genau … Er hat sein Gelübde in Sant Pere de Burgal bei Escaló abgelegt. Bruder Julià de Sau war vor langer Zeit Dominikanerfrater.«
»Gelobt sei der Herr!«, rief Ramon de Nolla bewegt aus.
»Vielleicht trefft Ihr ihn nicht mehr lebend an.«
»Wie meint Ihr das?«, fragte der Ritter entsetzt.
»In Sant Pere lebten zuletzt noch zwei Mönche, und gestern haben wir erfahren, dass einer von ihnen gestorben ist, ich weiß nicht, ob der Pater Prior oder Bruder Julià. Die Boten waren sich nicht sicher.«
»Aber wie kann ich dann …«
»Unsere Ordensregeln besagen, dass ein Kloster geschlossen werden muss, wenn nur noch ein einziger Mönch in ihm verbleibt, so schmerzlich diese Maßnahme auch für uns sein mag.«
»Ich verstehe. Aber wie kann ich …«
»Und dass wir bessere Zeiten abwarten müssen.«
»Ja, Hochwürdigster Vater. Aber wie kann ich erfahren, ob der überlebende Mönch der Bruder ist, den ich suche?«
»Ich habe soeben zwei Mönche losgeschickt, um das Allerheiligste und den noch lebenden Bruder abzuholen. Wenn sie zurück sind, werdet Ihr es wissen.«
Stille. Jeder der beiden Männer war in seine eigenen Gedanken versunken. Dann sagte der Abt: »Wie traurig. Ein Kloster, das nach fast sechshundert Jahren, in denen an jedem einzelnen Tag zum Lob Gottes die Stundengebete erklangen, seine Pforten schließen muss.«
»Sehr traurig, Hochwürdigster Vater. Ich werde mich auf den Weg machen und versuchen, Eure beiden Mönche noch einzuholen.«
»Das ist nicht nötig. Wartet hier. In zwei, drei Tagen …«
»Nein, Hochwürdigster Vater. Ich bin in Eile.«
»Wie Ihr meint, Herr. Sie werden Euch sicher dorthin bringen.«
Mit beiden Händen nahm er das Bild von der Esszimmerwand und trug es hinüber in das schwächere Licht des Balkons. Santa Maria de Gerri von Modest Urgell. So wie bei vielen Familien ein billiger Druck irgendeiner Abendmahlsszene an der Wand hängt, hing in unserem Esszimmer ein Urgell. Mit dem Bild in der Hand ging er in die Küche und sagte, Lola Xica, nimm dieses Bild, sag nicht nein.
Lola Xica, die immer noch am Küchentisch saß und geistesabwesend die Wand anstarrte, sah zu Adrià hin.
»Was?«
»Das ist für dich.«
»Du weißt ja nicht, was du da sagst, Junge. Deine Eltern …«
»Das ist egal. Jetzt bestimme ich. Und ich schenke es dir.«
»Das kann ich nicht annehmen.«
»Warum?«
»Es ist zu wertvoll. Ich kann nicht.«
»Nein, du hast Angst, dass es Mutter nicht recht sein könnte.«
»Wie auch immer. Ich nehme es nicht an.«
Da stand ich nun, den verschmähten Urgell in den Händen.
Also trug ich ihn an den Platz zurück, an dem ich ihn immer hatte hängen sehen, und das Esszimmer war wieder wie zuvor. Ich wanderte durch die Wohnung, ging in Vaters und Mutters Arbeitszimmer und durchwühlte wahllos irgendwelche Schubladen. Und nachdem er die Schubladen durchwühlt hatte, fing Adrià an nachzudenken. Nach zwei Stunden stillen Überlegens stand er auf und ging ins Bügelzimmer.
»Lola Xica.«
»Was.«
»Ich muss zurück nach Deutschland und werde erst in sechs oder sieben Monaten zurückkommen können.«
»Mach dir keine Sorgen.«
»Ich mache mir keine Sorgen. Bitte bleib hier; dies ist dein Zuhause.«
»Nein.«
»Du bist hier mehr zu Hause als ich. Solange ich das Arbeitszimmer für mich habe …«
»Ich bin vor einunddreißig Jahren hierher gekommen, um mich um deine Mutter zu kümmern. Jetzt, wo sie tot ist, habe ich hier nichts mehr verloren.«
»Bleib, Lola Xica.«
Nach fünf Tagen bekam ich das Testament zu lesen. Genauer gesagt, verlas es der Notar Cases vor mir, Lola Xica und Tante Leo. Und als der Mann mit schriller Stimme verkündete, es ist mein Wunsch, dass das Gemälde mit dem Titel Santa Maria de Gerri, ein Werk von Modest Urgell aus dem persönlichen Besitz der Familie, unentgeltlich meiner treuen Freundin Dolors Carrió, genannt Lola Xica, überlassen wird, in Anerkennung ihrer lebenslangen treuen Dienste, fing ich an zu lachen, Lola fing an zu weinen, und Tante Leo sah uns ratlos an.Das übrige Testament war komplizierter, mit Ausnahme eines persönlichen Briefs in
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