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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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weder Ärzte noch klägliche Besuche bei verständnisvollen Damen. Dein Vater hatte gewiss seine Fehler, aber er hätte nicht mal ein kleines Mädchen vergewaltigen können, weil er schließlich alles hasste, was ihn auch nur im entferntesten an Sex erinnerte. Ich denke, darum hat er sich in seine Sammelleidenschaft geflüchtet.«
    »Wenn das so war, warum hast du sie dann nicht verklagt? Haben sie dich erpresst?«
    »Ja.«
    »Mit deiner Geliebten?«
    »Nein.«
    Mutters Brief endete mit einer Reihe allgemeinerer Empfehlungen und dem scheuen Eingeständnis ihrer Liebe: Leb wohl, mein geliebter Sohn. Der letzte Satz, ich werde vom Himmel aus über dich wachen, hat seither für mich immer etwas Drohendes gehabt.
    »Sieh an«, empfing mich Senyor Berenguer und fegte einen nicht vorhandenen Fussel von seinem makellos sauberen Hosenbein, »du hast dich also entschlossen, die Ärmel hochzukrempeln und zu arbeiten.«
    Er saß in Mutters Arbeitszimmer, mit der zufriedenen Miene dessen, der wichtiges Terrain zurückerobert hat, und das Auftauchen dieses nichtsnutzigen, ewig unschlüssigen kleinen Ardèvol hatte ihn aus seinen Gedanken gerissen. Er war erstaunt, dass dieses Bürschchen einfach so hereingeplatzt war, ohne anzuklopfen. Deshalb hatte er »Sieh an« gesagt.
    »Was willst du denn mit mir besprechen?«
    Alles wollte Adrià besprechen. Zunächst stellte er aber mit seinem typischen diplomatischen Geschick klar: »Als Erstes möchte ich Ihr Arbeitsverhältnis auflösen.«
    »Was?!«
    »Sie haben ganz recht gehört.«
    »Kennst du die Vereinbarung zwischen mir und deiner Mutter?«
    »Mutter ist tot. Und ja, ich kenne die Vereinbarung.«
    »Das glaube ich nicht. Ich habe mich schriftlich verpflichtet, im Laden zu arbeiten. Mir bleibt noch ein Jahr Galeerendienst.«
    »Das erlasse ich Ihnen. Ich will, dass Sie von hier verschwinden.«
    »Ich weiß nicht, was mit eurer Familie nicht stimmt, dass ihr dermaßen bösartig seid …«
    »Bilden Sie sich nicht ein, Sie könnten mich belehren, Senyor Berenguer.«
    »Belehren nicht, wohl aber informieren. Weißt du eigentlich, was für ein Raubtier dein Vater war?«
    »Mehr oder weniger. Und Sie waren die Hyäne, die ihm die Überreste der Beute streitig gemacht hat.«
    Senyor Berenguer lächelte so breit, dass ein goldener Eckzahn sichtbar wurde.
    »Dein Vater kannte keine Gnade, wenn er ein Geschäft witterte. Seine sogenannten Käufe waren oft nichts anderes als dreiste Beschlagnahmen.«
    »Beschlagnahmen also, schön und gut. Aber Sie packen noch heute Ihre Sachen und sind ab sofort nicht mehr befugt, den Laden zu betreten.«
    »Na so was …« Mit seltsam verzerrter Miene versuchte er zu verbergen, wie sehr ihn die Worte des Ardèvol-Welpen überraschten. »Und du wagst es, mich eine Hyäne zu nennen? Wer glaubst du eigentlich …«
    »Ich bin der Sohn des Dschungelkönigs, Senyor Berenguer.«
    »Und genau so impertinent wie deine Mutter.«
    »Auf Wiedersehen, Senyor Berenguer. Morgen wird Sie der neue Verwalter anrufen, wenn nötig, mit dem Beistand eines Rechtsanwalts, der über alles im Bilde ist.«
    »Wusstest du, dass dein Vermögen auf Erpressung beruht?«
    »Sind Sie immer noch hier?«
    Zu meinem Glück glaubte Senyor Berenguer, ich wäre aus dem gleichen Holz geschnitzt wie meine Mutter; er verwechselte meinen resignierten Fatalismus mit tiefer Gleichgültigkeit, und das machte ihn wehrlos und mich stark. Schweigend sammelte er zusammen, was er sicherlich erst kürzlich in einer Schublade im Schreibtisch meiner Mutter verstaut hatte, und verließ das Büro. Ich sah, wie er im Laden Sachen hin und her räumte, und bemerkte, dass Cecília, die sehr beschäftigt mit den Katalogen tat, mit heimlicher Neugier das Treiben der Hyäne verfolgte. Schnell hatte sie erkannt, was vor sich ging, und ihr Gesicht verzog sich zu einem lippenstiftroten Lächeln.
    Im Hinausgehen knallte Senyor Berenguer die Tür hinter sich zu, in der vergeblichen Hoffnung, eine Scheibe zu zerbrechen. Die beiden neuen Angestellten schienen nicht zu verstehen, was geschah. Nach dreißig Jahren Arbeit im Laden hatte Senyor Berenguer kaum eine Stunde gebraucht, um daraus – und, wie ich damals glaubte, auch aus meinem Leben – zu verschwinden. Ich schloss mich im Arbeitszimmer meines Vaters und meiner Mutter ein. Und anstatt nach Hinweisen auf die Heldentaten des Dschungelkönigs zu forschen, saß ich da und weinte. Am nächsten Tag übergab ich, anstatt nach Hinweisen zu forschen, den Laden einem

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