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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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den Carrer Llúria hinauf, weil sich die Stadtverwaltung in der Spätphase der Francozeit für die direkte Umweltverschmutzung entschieden und alle Straßenbahnen durch Busse ersetzt hatte; die Schienen, auf denen man mitdem Motorrad so wunderbar ausrutschen konnte, wurden allerdings beibehalten. Und ich vergrub mich zu Hause, fest entschlossen, weiter zu studieren und dich zu vergessen. Ich blieb im Zimmer meiner Eltern und schlief in dem Bett, in dem ich am Dienstag, dem dreißigsten April neunzehnhundertsechsundvierzig, um kurz nach halb sieben Uhr morgens geboren worden war.
    Bernat und Tecla heirateten, bis über beide Ohren verliebt; die Hoffnung leuchtete aus ihren Augen, und ich war ihr Trauzeuge. Während des Hochzeitsmahls spielten sie uns in ihren Brautkleidern die erste Sonate von Brahms vor, einfach so und trotz aller Schwierigkeiten ohne Noten. Und ich platzte beinahe vor Neid … Bernat und Tecla hatten das ganze Leben vor sich, und ich beneidete meinen Freund fröhlich um sein Glück. Ich dachte voller Sehnsucht an Sara und ihre unerklärliche Flucht, beneidete Bernat noch einmal von Herzen, wünschte den beiden alles Glück der Welt für ihr Leben zu zweit, und sie traten freudestrahlend ihre Hochzeitsreise an und begannen, Stück für Stück, Tag für Tag, beharrlich und voller Hingabe an ihrem Unglück zu feilen.
    In den darauffolgenden Monaten gewöhnte ich mich ans Unterrichten, an das mangelnde Interesse der Studenten an Kulturgeschichte und an die kahle, baumlose Landschaft des Eixample. Außerdem nahm ich Klavierunterricht bei einer Dame, die mich so ganz und gar nicht an die Trullols erinnerte, aber eine gute Lehrerin war. Trotzdem blieben mir noch zu viele Mußestunden.
    »ā.«
    »hadh.«
    »Tre«
    »trēn.«
    »trén.«
    »tlā.«
    »tláth.«
    »’arba’.«
    »árba.«
    »’arba’!«
    »’arba’!«
    »Raba taua!«
    Der Aramäischunterricht erwies sich als ausgesprochen hilfreich. Anfangs klagte Frau Professor Gombreny noch über meine Aussprache, aber irgendwann sagte sie nichts mehr, weil ich es richtig machte oder weil sie aufgegeben hatte, das weiß ich nicht.
    Weil ihm die Mittwoche immer noch zu lang waren, belegte Adrià eine Einführung ins Sanskrit. Der Kurs eröffnete mir eine neue Welt, vor allem, weil es ein Vergnügen war, Professor Figueres zuzuhören, wenn er sich vorsichtig an Etymologien wagte und Verbindungen zwischen den verschiedenen indoeuropäischen Sprachen knüpfte. Ich lief im Slalom durch den Flur, um den Bücherkisten auszuweichen, deren Position ich so genau kannte, dass ich nicht einmal im Dunkeln gegen sie stieß. Und wenn ich keine Lust mehr hatte zu lesen, spielte ich stundenlang auf meiner Storioni, bis ich völlig in Schweiß gebadet war wie Bernat am Tag seiner Prüfung. So verkürzte ich mir die Tage und dachte fast nur noch an dich, wenn ich mir das Abendessen machte, weil dann meine Wachsamkeit nachließ. Und wenn ich zu Bett ging, war ich ein wenig traurig, Sara, aber vor allem quälte mich die Frage nach dem Warum. Nur zweimal musste ich mich mit dem Verwalter des Ladens treffen, einem rührigen Mann namens Sagrera, der sofort verstand, worauf es mir ankam. Beim zweiten Treffen informierte er mich, dass Cecília demnächst in Rente gehen werde, und obwohl ich kaum mit ihr zu tun gehabt hatte, stimmte mich die Nachricht traurig. So unwahrscheinlich es klingen mag: Cecília hat mich öfter in die Wange gekniffen oder mir das Haar zerzaust als Mutter.
    Das Kribbeln in den Fingern spürte ich zum ersten Mal, als Morral, ein alter Buchhändler vom Mercat de Sant Antoni, der meinen Vater gekannt hatte, zu mir sagte, ich habe da etwas, das sollten Sie sich ansehen, Doktor.
    Adrià, der gerade in einem Stapel Bücher, alter Bücher stöberte, einige mit Widmungen unbekannter Menschen fürunbekannte Menschen versehen, die ihn amüsierten, hob verwundert den Kopf.
    »Verzeihung?«
    Der Buchhändler war aufgestanden und nickte ihm zu, ihm zu folgen. Er bedeutete dem Mann am Nachbarstand mit einem Fingerschnipsen, dass er mal kurz verschwand und der andere um Himmels willen aufpassen solle. Nach fünf Minuten schweigenden Fußmarsches standen sie im Carrer Comte Borrell vor einem schmalen Haus mit einem dunklen Treppenaufgang, in dem er, wie ihm nun einfiel, ein paar Mal mit seinem Vater gewesen war. Im ersten Stock zog Morral einen Schlüsselbund aus der Tasche und schloss eine Tür auf. Die Wohnung lag im Dunkeln. Er schaltete eine Glühbirne ein, deren

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