Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
Vom Netzwerk:
Licht so matt war, dass es nicht einmal bis zum Fußboden reichte, und durquerte mit ein paar großen Schritten den engen Flur bis zu einem Zimmer, in dem eine gewaltige Kommode mit zahllosen breiten, aber flachen Schubladen stand, wie sie Zeichner zum Aufbewahren ihrer Blätter benutzen. Mein erster Gedanke war, wie sie wohl die Kommode durch den engen Flur transportiert hatten. Die Zimmerlampe war heller als die am Eingang. Und dann sah Adrià im Schein einer weiteren Lampe, die Morral einschaltete, in der Mitte des Raumes einen Tisch. Der Buchhändler zog eine Schublade auf, nahm einen Stapel Blätter heraus und legte sie unter dem Lichtstrahl auf den Tisch. Da spürte ich das Pochen und Prickeln in den Eingeweiden und Fingerspitzen. Wir beugten uns beide über den vor mir liegenden Schatz: ein paar Blätter brüchigen Papiers. Ich setzte meine Brille auf, um mir kein Detail entgehen zu lassen, und las laut vor Discours de la méthode. Pour bien conduire la raison, & chercher la vérité dans les sciences. Nichts weiter. Ich wagte es nicht, das Papier zu berühren. Ich sagte bloß, nein.
    »Doch.«
    »Das kann nicht sein.«
    »Na, interessiert?«
    »Wo zum Teufel haben Sie das her?«
    Statt einer Antwort drehte Morral die erste Seite um. Undnach einer Weile sagte er, ich bin mir sicher, dass Sie das interessiert.
    »Was wissen Sie denn schon?«
    »Sie sind wie Ihr Vater: Ich weiß, dass Sie das interessiert.«
    Vor Adrià lag das Originalmanuskript des Discours de la méthode , geschrieben vor 1637, dem Jahr, indem es gemeinsam mit Dioptrique, Les Météores und Géométrie veröffentlicht worden war.
    »Vollständig?«, fragte er.
    »Vollständig. Nun ja … bis auf … zwei Seiten, eine Kleinigkeit.«
    »Und woher weiß ich, dass es keine Fälschung ist?«
    »Wenn Sie den Preis hören, werden Sie merken, dass es keine Fälschung ist.«
    »Nein. Dann merke ich, dass es sehr teuer ist. Woher weiß ich, dass Sie mich nicht betrügen?«
    Der Mann kramte in einer Mappe, die an einem Tischbein lehnte, zog ein paar Blätter hervor und hielt sie Adrià hin. Der studierte den ganzen Nachmittag lang das Bündel Papiere und das Echtheitszertifikat, fragte sich, wo verdammt noch mal dieses Juwel herkam, und beschloss, dass es vielleicht besser war, nicht allzu viele Fragen zu stellen.
    Ich beschränkte mich also auf Fragen zur Echtheit der Papiere und zahlte schließlich, nach einem Monat voller Zweifel und diskreter Nachforschungen, ein Vermögen für das Manuskript – das erste von zwanzig, die ich im Laufe der Zeit für meine Sammlung erwerben sollte. Zu Hause lagerten schon zwanzig lose Seiten aus der Recherche , das vollständige Manuskript von The Dead von Joyce, einige Seiten von Zweig, dem Kerl, der sich in Brasilien das Leben genommen hatte, und die von Abt Delligat ausgestellte Gründungsurkunde des Klosters von Sant Pere de Burgal, alle aus dem Besitz meines Vaters. An diesem Tag verstand ich, dass ich vom gleichen Dämon besessen war wie er. Das Kitzeln im Bauch, das Kribbeln in den Fingern, der trockene Mund … und das alles angesichts der Zweifel an Echtheit und Wert eines Manuskripts, aus Angst, die Gelegenheit zu verpassen, es zu erwerben, aus Angst, zuviel zu zahlen, aus Angst, zu wenig zu bieten und zusehen zu müssen, wie es mir entging …
    Der Discours de la méthode war mein Sandkorn.

28
    Das erste Sandkorn ist ein Jucken im Auge, dann ein lästiges Kribbeln in den Fingern, ein Brennen im Magen, eine kleine Ausbeulung in der Tasche und zuletzt, wenn man Pech hat, eine bleischwere Last auf dem Gewissen. Alles beginnt so, liebste Sara, das Leben und die Geschichten: mit einem harmlosen, zunächst unbemerkten Sandkorn.
    Ich betrat den Laden wie einen Tempel. Oder wie ein Labyrinth. Oder wie die Hölle. Seit ich Senyor Berenguer in die Finsternis hinausgetrieben hatte, war ich nicht mehr hier gewesen. Beim Öffnen der Tür läutete noch immer das gleiche Glöckchen. Cecília blickte ihm aufmerksam entgegen. Sie stand hinter dem Ladentisch, als hätte sie sich niemals von dort wegbewegt, als wäre sie ein ausgestelltes Objekt, das darauf wartete, von einem betuchten Sammler erworben zu werden. Noch immer adrett gekleidet und sorgfältig frisiert. Reglos, als hätte sie seit Stunden auf ihn gewartet, bat sie ihn um einen Kuss, wie damals, als er zehn Jahre alt gewesen war. Dann fragte sie, wie geht es dir, Junge, und er sagte, gut, gut. Und dir?
    »Ich habe darauf gewartet, dass du kommst.«
    Adrià sah

Weitere Kostenlose Bücher