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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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etwa als Notfallpatienten aufnahm, weil er der Stammesführer dieses Gebiets war, sondern weil er in Lebensgefahr schwebte. Turu Mbulaka brüllte, man solle den Arzt verdammt noch mal seine Arbeit tun lassen, er halte es kaum aus vor Schmerzen und wolle nicht ohnmächtig werden, da die Wachsamkeit eines Mannes erlahmt, wenn er vor Schmerzen das Bewusstsein verliert und seinen Feinden hilflos ausgeliefert ist.
    Die Narkose, verabreicht von der einzigen als Anästhesistin geschulten Krankenschwester, ließ Turu Mbulakas Wachsamkeit um dreizehn Uhr drei erlahmen. Die Operation dauerte genau eine Stunde, und zwei Stunden später wurde der Patient in den Krankensaal verlegt (in Bebenbeleke gab es keine Intensivstation); die Wirkung der Narkose hatte schon nachgelassen, und so konnte er frei heraus sagen, dass sein Bauch ihm scheiß wehtat, was zum Teufel haben Sie mit mir angestellt? Doktor Müss überhörte den drohenden Unterton seines Patienten – er hatte in seinem langen Leben schon so vieles zu hören bekommen – und schickte die Leibwächter aus dem Krankensaal. Sie könnten auf der grünen Bank direkt neben dem Eingang warten, Monsieur Turu Mbulaka müsse nun ausruhen. Die Frauen des Stammesführers hatten frische Laken, Fächer gegen die Hitze und einen batteriebetriebenen Fernseher mitgebracht, den sie amFußende des Bettes aufstellten, dazu jede Menge Essen, das der Patient die nächsten fünf Tage nicht würde anrühren dürfen.
    Doktor Müss war bis zum Feierabend vollauf mit den Routinefällen auf der Krankenstation beschäftigt. Von Tag zu Tag machte ihm sein Alter mehr zu schaffen, aber er zog es vor, es zu ignorieren, und erledigte seine Arbeit so gewissenhaft wie immer. Obwohl ihre Dienstzeit noch nicht zu Ende war, schickte er die Krankenschwestern mit Ausnahme der Nachtschwester nach Hause, wie er es oft tat, weil er wollte, dass sie am nächsten Tag – man wusste nie, was der nächste Tag bringen würde – frisch und munter wären. Etwa um diese Zeit kam ein Fremder zu ihm, ein Ausländer, mit dem er sich für gut eine Stunde einschloss. Worüber die beiden sprachen, wusste niemand. Es wurde allmählich dunkel, und durch das Fenster drang das träge Gackern einer Henne herein. Als der Mond bei Moloa über den Horizont lugte, ertönte dumpfes Geknatter, möglicherweise Schüsse. Mit der Präzision eines Uhrwerks sprangen die beiden Leibwächter genau gleichzeitig von der grünen Bank hoch, auf der sie rauchend gesessen hatten, zogen die Waffen und sahen einander verwundert an. Die Schüsse waren von der anderen Seite gekommen. Was machen wir, gehen wir beide rein, bleibst du, und ich gehe? Na los, geh du, ich bleibe für alle Fälle hier, o.k.?
    »Schäl mir die Mango«, hatte Turu Mbulaka seine dritte Ehefrau angeherrscht, kurz vor den Schüssen, wenn es denn Schüsse waren.
    »Der Doktor hat aber gesagt …« Im Krankensaal war so gut wie nichts zu hören gewesen, weder vom Schuss noch von der Unterhaltung, weil im Fernsehen ein Quizteilnehmer, der die Antwort nicht wusste, vom Publikum lautstark verspottet wurde.
    »Was weiß der Doktor schon. Er will, dass es mir schlechtgeht.« Mit einer verächtlichen Geste sah er zum Fernseher hinüber und sagte zu dem unglückseligen Quizteilnehmer: »Ihr seid ein Haufen Ignoranten.« Und zur dritten Ehefrau: »Na los, schäl mir die Mango.«
    Im gleichen Augenblick, als Turu Mbulaka den ersten Biss in die verbotene Frucht tat, nahm die Tragödie ihren Lauf: Ein bewaffneter Mann trat in den halbdunklen Krankensaal und feuerte eine Ladung auf Turu Mbulaka ab, die die Mango zerplatzen ließ und den armen Patienten dermaßen durchsiebte, dass die furchtbare Operationswunde kaum noch auffiel. Dann zielte der Mörder auf die drei wehrlosen Ehefrauen, sah sich, das Gewehr im Anschlag, im ganzen Krankensaal um, offenbar auf der Suche nach dem ältesten Sohn, und ging hinaus. Die zwanzig bettlägerigen Patienten warteten ergeben auf den Gnadenschuss, aber der Hauch des Todes wehte an ihnen vorüber. Der Mörder, der einigen Augenzeugen zufolge ein gelbes, anderen zufolge ein blaues Halstuch trug, das aber nach übereinstimmender Aussage sein Gesicht bedeckte, verschwand rasch in der Nacht. Einige versicherten, sie hätten den Motor eines Autos gehört, andere wollten nichts gehört haben, zitterten aber immer noch beim Gedanken an das Vorgefallene, und die Presse in Kinshasa berichtete, der oder die Mörder hätten die beiden unfähigen Leibwächter Turu Mbulakas

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