Das Schweigen des Sammlers
offenen Tür fiel Lichtschein aus der Wohnung auf Adrià, und sie ließ ihn nicht herein.
»Ich liebe dich. Sie wollten unsere Liebe zerstören. Verstehst du mich?«
»Sie ist schon zerstört.«
»Ich verstehe nicht, wie du all das glauben konntest, was sie dir erzählt haben.«
»Ich war sehr jung.«
»Du warst schon zwanzig!«
»Ich war erst zwanzig, Adrià.« Sie zögerte. »Sie haben mir gesagt, was ich tun soll, und das habe ich getan.«
»Und ich?«
»Ja, zugegeben. Aber es war schrecklich. Deine Familie …«
»Was.«
»Dein Vater … hat Dinge getan.«
»Ich bin nicht mein Vater. Ich kann nichts dafür, dass ich der Sohn meines Vaters bin.«
»Es ist mir sehr schwer gefallen, das so zu sehen.«
Die Dame will die Tür schließen, und da sagt man ihr mit einem siegessicheren Lächeln, vergessen wir das Lexikon, gnädige Frau, und greift zum letzten Mittel: ein enzyklopädisches Wörterbuch, ein einbändiges Werk, eine große Hilfe für Ihre Kinder bei den Hausaufgaben. Und wie das bbeschissene Leben so spielt, hast du sicher einen ganzen Stall voller Kinder.
»Und warum hast du mich damals nicht angerufen?«
»Ich hatte ein neues Leben angefangen. Ich muss die Tür schließen, Adrià.«
»Was soll das heißen, ein neues Leben angefangen? Hast du geheiratet?«
»Es reicht, Adrià.«
Und die Dame schloss die Tür. Das Letzte, was er von ihr sah, waren die traurigen Blumen. Er stand auf dem Treppenabsatz, strich den Namen der Kundin von der Liste und verfluchte seinen Job, der einem so viele Misserfolge und nur selten mal einen Triumph beschied.
Nachdem die Tür zugefallen war, blieb ich im Dunkel meiner Seele zurück. Ich konnte mich nicht mal mehr aufraffen, durch die Stadt des Lichts zu flanieren, mir war alles egal. Adrià kehrte ins Hotel zurück, legte sich aufs Bett und weinte. Einen Augenblick lang überlegte er, ob er den Schrankspiegel, der ihm sein Jammerbild vor Augen führte, zerschlagen oder sich lieber vom Balkon stürzen solle. Doch dann entschloss er sich, traurig und verzweifelt, zum Telefonhörer zu greifen.
»Ja, bitte?«
»Hallo.«
»Hallo, wo bist du? Ich habe bei dir zu Hause angerufen und…«
»Ich bin in Paris.«
»Aha.«
»Ja.«
»Und diesmal hast du keine Rechtsanwältin gebraucht?«
»Nein.«
»Was hast du?«
Adrià schwieg einen Moment; erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er gerade Öl mit Wasser mischte.
»Adrià, was hast du?«, fragte Laura und dann, um sein zu langes Schweigen zu durchbrechen: »Hast du etwa auch noch eine französische Halbschwester?«
»Nein, nichts, es ist nichts. Ich glaube, ich vermisse dich ein bisschen.«
»Sehr gut. Wann kommst du zurück?«
»Morgen früh nehme ich den Zug.«
»Darf man erfahren, was du in Paris treibst?«
»Nein.«
»Na großartig.« Laura klang tief gekränkt.
»Nun gut«, lenkte Adrià ein, »ich bin hier, um mir das Original von Della pubblica felicità anzusehen.«
»Was ist das?«
»Das letzte Buch von Muratori.«
»Aha.«
»Faszinierend. Wie ich mir schon dachte, gibt es von Manuskript zu Druckausgabe interessante Abweichungen.«
»Aha.«
»Was ist los mit dir?«
»Nichts. Du bist ein Lügner.«
»Ja.«
Laura legte auf.
Um ihren vorwurfsvollen Ton zu vergessen, schaltete er den Fernseher ein.
Ich erwischte einen flämischen Sender und ließ ihn laufen, um zu sehen, wie es um mein Niederländisch stand. Und da hörte ich die Nachricht. Ich verstand alles, auch wegen der schrecklichen Bilder, aber Adrià wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass die Geschichte etwas mit ihm zu tun haben könnte. Ich bin an allem beteiligt. Ich glaube, ich bin sogar schuld an dem wenig erfreulichen Weg, den die Menschheit eingeschlagen hat.
Das waren die Fakten, wie sie von Augenzeugen den örtlichen Medien geschildert und später im belgischen Fernsehen gezeigt wurden: Am zwölften des Monats war Turu Mbulaka aus Yumbu-Yumbu mit heftigen Bauchschmerzen ins Krankenhaus von Bebenbeleke eingeliefert worden. Doktor Müss hatte bei ihm eine Bauchfellentzündung diagnostiziert, sich Gott anbefohlen und den Patienten in dem behelfsmäßigen OP des Krankenhauses einer Notoperation unterzogen. Er musste sehr energisch werden, bis klar war, dass kein Bodyguard, ganz gleich, ob bewaffnet oder unbewaffnet, Zugang zum OP hatte, dass weder die drei Ehefrauen noch der älteste Sohn des Patienten diesen begleiten durften und dass Mbulaka für die Operation die Sonnenbrille würde absetzen müssen. Und dass er ihn nicht
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