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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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Müss angekündigt, die zwei Jahre zuvor entstanden war, als der Gründer des Krankenhauses sich geweigert hatte, den König-Baudouin-Preis entgegenzunehmen, weil dieser nicht mit einem Geldbetrag verbunden war, der zum Erhalt seiner Krankenstation beigetragen hätte. Überdies hatte Doktor Müss nicht eingesehen, warum er zur Preisverleihung nach Brüssel reisen solle, wo er doch im Krankenhaus dringender gebraucht wurde.
    Um zehn Uhr abends schaltete eine zitternde Hand den alten Fernseher ein. Auf dem Bildschirm erschien das Titelbild des Programms 60 Minuten , und gleich darauf war der offenbar heimlich gefilmte Doktor Müss zu sehen, wie er unter dem Vordach des Krankenhauses zu der grünen, nochnicht mit Blut befleckten Bank hinüberging und zu irgendjemandem sagte, der bei ihm stand, eine Reportage sei völlig überflüssig, es gebe hier im Krankenhaus viel zu tun und er habe keine Zeit für solchen Firlefanz.
    »Eine Reportage kann Ihnen aber viele Spenden bringen«, hörte man den Reporter ein wenig aufgeregt sagen, während er zurücktrat, die versteckte Kamera stets auf den Doktor gerichtet.
    »Wenn Sie etwas spenden wollen, ist Ihnen das Krankenhaus sehr verbunden.« Der Arzt zeigte hinter sich: »Heute impfen wir, das wird ein harter Tag.«
    »Wir können warten.«
    »Ich bitte Sie.«
    Es folgte die Einblendung des Titels, Bebenbeleke, und dann Bilder von den schlichten Krankenhausgebäuden, den geschäftigen Krankenschwestern, die mit einer so schier übermenschlichen Hingabe in ihre Arbeit vertieft waren, dass sie kaum dazu kamen, die Köpfe zu heben. Und ganz im Hintergrund Doktor Müss. Eine Stimme aus dem Off erzählte, dass Doktor Müss aus einem Dorf an der Ostsee stammte und sich vor dreißig Jahren in Bebenbeleke niedergelassen hatte. Er hatte tatsächlich nicht mehr dabeigehabt als das, was er am Leibe trug, und Stein für Stein dieses Krankenhaus errichtet, das – wenn auch nur unzureichend – die medizinische Versorgung der ausgedehnten Region von Kwilu gewährleistete.
    Der Mann mit den zitternden Händen stand auf, ging zum Fernseher und schaltete ihn aus. Er kannte diese Reportage in- und auswendig. Er seufzte.
    Zwei Jahre zuvor war sie zum ersten Mal ausgestrahlt worden. Obwohl er nur selten fernsah, war damals zufällig der Fernseher gelaufen. Er wusste noch ganz genau, dass sein Interesse von diesem dynamischen, effektvollen Vorspann geweckt worden war, in der Doktor Müss zu irgendeinem Notfall eilte und den Journalisten erklärte, er habe keine Zeit für andere Dinge als …
    »Ich kenne diesen Mann«, hatte der Mann mit den zitternden Händen gesagt.
    Aufmerksam verfolgte er die Reportage. Der Name Bebenbeleke sagte ihm ebenso wenig wie Beleke oder Kilongo. Es war das Gesicht, das Gesicht des Doktors … Ein Gesicht, das mit seinem Schmerz verbunden war, seinem einzigen großen Schmerz, wenn er auch nicht wusste, wie. Und dann überfiel ihn qualvoll die Erinnerung an seine Frauen, an die kleine Trude, meine verlorene Truu, an Amelietje, die ihn klagend anblickte, weil er tatenlos geblieben war, er, der sie alle hätte retten sollen, an seine Schwiegermutter, die sich unablässig hustend an die Geige klammerte, an meine Berta mit der kleinen Jule auf dem Arm und an alles Grauen dieser Welt. Und was hatte das Gesicht dieses Arztes mit seinem schrecklichen Schmerz zu tun? Gegen Ende der Reportage, die anzusehen er sich zwang, erfuhr er, dass Bebenbeleke in diesem riesigen Gebiet chronischer politischer Instabilität weit und breit das einzige Krankenhaus war. Bebenbeleke. Und ein Gesicht, das ihm wehtat. Und dann, beim Abspann, fiel ihm ein, wo und wie er Doktor Müss kennengelernt hatte, Bruder Eugen, den Trappistenmönch mit dem sanften Blick.
    Der Pater Prior war alarmiert, als ihm der Bruder Krankenpfleger besorgt zuflüsterte, ich weiß nicht, was ich mit Bruder Robert anstellen soll, Vater, er wiegt nur noch neunundvierzig Kilo, ein Strich in der Landschaft, und seine Augen sind ganz glanzlos. Ich …
    »Seine Augen haben noch nie geglänzt«, sagte der Pater Prior unbedacht und schämte sich gleich darauf für seinen Mangel an Barmherzigkeit einem Bruder der Gemeinschaft gegenüber.
    »Mir fällt nichts mehr ein, was ich noch für ihn tun könnte. Die Fleisch- und Fischsuppe für die Kranken rührt er kaum an. Die reine Verschwendung.«
    »Und der Gehorsam?«
    »Er bemüht sich ja, aber er schafft es einfach nicht. Als hätte er all seine Lebenslust verloren. Im Gegenteil: Als

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