Das Schweigen des Sammlers
dunklen Kirche versammelten, in der nur die treuen Flammen zweier Kerzen das Bild Unserer Lieben Frau von Achel beleuchteten. Und wenn die Glocken des Sankt-Benedikt-Klosters acht Uhr abends läuteten, ging er wie seine Brüder zu Bett und hoffte, dass der nächste Tag genau so sein möge wie der, den er durchlebt hatte, und der Tag darauf ebenso und so weiter bis in alle Ewigkeit.
Der Pater Prior sah den Bruder Krankenpfleger mit offenem Mund an. Warum auch musste der ehrwürdige Abt Manfred ausgerechnet dieser Tage auf Reisen sein! Warum musste sich das Generalkapitel ausgerechnet an dem Tag versammeln, an dem Bruder Robert in eine Art Starre verfallen war, gegen die die geringen Künste des Bruders Krankenpfleger wenig auszurichten vermochten! Warum, o Schöpfer des Universums? Warum habe ich bloß das Amt des Priors angenommen?
»Aber er lebt doch noch?«
»Ja. Aber er befindet sich im Zustand der Katatonie. Glaube ich. Man sagt zu ihm, steh auf, und er steht auf, man sagt ihm, setz dich, und er setzt sich. Man sagt ihm, sprich, und er bricht in Tränen aus, Vater.«
»Das ist keine Katatonie.«
»Wisst Ihr, Vater, mit Verletzungen, Schürfwunden, gebrochenen und ausgerenkten Knochen, mit Grippe, Erkältungen und Bauchschmerzen kenne ich mich bestens aus: Aber diese seelischen Leiden …«
»Und was ratet Ihr mir, Bruder?«
»Ich, Vater …«
»Ja. Was ratet Ihr mir?«
»Wir sollten ihn zu einem richtigen Arzt schicken.«
»Doktor Geel wüsste auch nicht, was zu tun ist.«
»Ich sagte ja auch, zu einem richtigen Arzt.«
Es war ein Glück, dass Abt Manfred bei der dritten Versammlung des Generalkapitels seinen Mitbrüdern, den anderen Äbten, voller Sorge berichtete, was ihm sein Prior mit ferner, erschrockener Stimme am Telefon erzählt hatte. DerAbt von Mariawald sagte, wenn es ihm recht sei, er habe da einen Mönch in seinem Kloster, der Arzt sei und sich trotz seiner außerordentlichen Bescheidenheit und ganz gegen seinen Willen über die Klostermauern hinaus einen Ruf als Fachmann für körperliche und seelische Leiden erworben habe. Und dass ihm Bruder Eugen Müss zur Verfügung stehe.
Zum ersten Mal seit zehn Jahren, seit dem sechzehnten April neunzehnhundertfünfzig, als er in die Sankt-Benedikt-Abtei von Achel eingetreten und zu Bruder Robert geworden war, verließ Matthias Alpaerts den Klosterbezirk. Seine auf den Knien liegenden Hände zitterten heftig. Mit ängstlichen Augen blickte er durch die schmutzige Scheibe des Citroën Stromberg, der ihn auf der holprigen, staubigen Straße von seiner Zuflucht wegbrachte, zurück in die stürmische Welt, der er für immer hatte entfliehen wollen. Der Bruder Krankenpfleger musterte ihn von Zeit zu Zeit verstohlen, und er bemerkte es und versuchte sich abzulenken, indem er den Nacken des schweigenden Fahrers anstarrte. Die Fahrt nach Heimbach dauerte viereinhalb Stunden, in denen der Bruder Krankenpfleger, um das hartnäckige Schweigen zu durchbrechen, die Terz, die Sext und die None betete, untermalt vom Röcheln des schlecht eingestellten Vergasers; sie trafen in Mariawald ein, als die Glocken, die ganz anders klangen als in Achel, o Herr, die Gemeinschaft zum Vespergebet riefen.
Am nächsten Tag wies man ihm nach dem Laudes eine harte Bank in der Ecke eines breiten, hell erleuchteten Korridors und bedeutete ihm zu warten. Die wenigen respektvollen deutschen Worte des Bruders Krankenpfleger dröhnten ihm in den Ohren wie brutale Befehle. Dann verschwand der Mönch, der Gehilfe von Bruder Eugen, mit dem Krankenpfleger aus Achel hinter einer Tür. Wahrscheinlich wollten sie einen Vorabbericht, auf jeden Fall ließen sie ihn mit seinen Ängsten allein. Anschließend rief Bruder Eugen ihn in ein ruhiges Behandlungszimmer, sie nahmen einander gegenüberan einem Tisch Platz, und der Mönch bat ihn in ziemlich korrektem Niederländisch, seine Qualen zu schildern. Bruder Robert sah ihm forschend in die Augen, und als er den sanften Blick gewahrte, explodierte sein Schmerz, und er begann, stellen Sie sich vor, Sie sitzen zu Hause beim Essen, mit Ihrer Frau, Ihrer kränklichen Schwiegermutter und Ihren drei kleinen Töchtern, der Tisch ist mit den neuen blau-weiß karierten Servietten gedeckt, weil Amelietje, die Älteste, Geburtstag hat. Und dann erzählte Bruder Robert eine geschlagene Stunde lang, ununterbrochen, atemlos, ohne um ein Glas Wasser zu bitten, ohne den Blick von der glänzenden Tischplatte zu heben und ohne zu bemerken, dass Bruder Eugens
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