Das Schweigen des Sammlers
Hölle verdiente, vor der es kein Entrinnen geben konnte. Doch ehe er zur Hölle fuhr, hatte er noch eine Aufgabe zu erfüllen. »Sieh zu, mein Sohn«, hatteder Beichtvater in seiner einzigen kurzen Antwort auf das ewig lange Geständnis gesagt, kurz bevor er ihm die Absolution erteilte und verstarb, »auf welche Weise du das Böse, das du angerichtet hast, wiedergutmachen kannst.« Und leiser: »Falls es eine Wiedergutmachung überhaupt geben kann …« Und nach kurzem Zögern hatte er noch hinzugefügt: »Die göttliche Gnade, die unendlich ist, möge mir verzeihen, aber selbst wenn du dich bemühst, das Böse wiedergutzumachen, glaube ich nicht, dass du einen Platz im Paradies haben wirst.« Auf seiner Flucht dachte Eugen Müss über die Wiedergutmachung des Bösen nach. Früher war es einfacher gewesen, denn bei seiner ersten Flucht hatte er nur die Archive vernichten und sich des Corpus delicti entledigen müssen, der Corpuscula delicti. Mein Gott.
In drei Klöstern, zwei tschechischen und einem ungarischen, schickten sie ihn mit freundlichen Worten wieder weg. Im vierten fand er nach einem langen Postulatsverfahren schließlich Aufnahme. Es erging ihm nicht wie jenem armen Mönch, der vor der Angst davonlief und dreißig Mal darum betteln musste, ein Mönch wie jeder andere sein zu dürfen, und dem der Pater Prior von Sant Pere de Burgal neunundzwanzig Mal in die Augen geblickt hatte, um ihn dann abzuweisen. Bis er an einem regnerischen, glücklichen Freitag zum dreißigsten Mal um Einlass bat. Müss lief nicht vor der Angst davon, er floh vor Doktor Budden.
Pater Klaus, der Novizenlehrer, war auch für die Anwärter zuständig. Seiner Einschätzung nach dürstete es diesen noch jungen Mann nach Spiritualität, innerer Einkehr und Buße, und das alles konnte ihm der Trappistenorden bieten. Und so zog er als Postulant ins Kloster Mariawald ein.
Das Leben in Andacht brachte ihn der Gegenwart Gottes näher, doch lebte er in ständiger Angst und in der Überzeugung, nicht einmal des Atmens würdig zu sein. Acht Monate später, auf dem Weg zum Kapitularsaal, wo der Abt ihnen einige Veränderungen im klösterlichen Tagesablauf mitteilen wollte, brach Pater Albert eines Tages im Kreuzgang vor ihm zusammen. Bruder Eugen Müss sah ihn daliegen, sagte, ohnees sich zweimal zu überlegen, das ist ein Herzinfarkt, und erteilte denen, die Pater Albert zu Hilfe geeilt waren, klare Anweisungen. Pater Albert überlebte, doch die überraschten Brüder entdeckten, dass der Novize Müss nicht nur medizinische Kenntnisse besaß, sondern sogar Arzt war.
»Warum hast du uns das verschwiegen?«
Stille. Zu Boden gerichteter Blick. Ich wollte ein neues Leben anfangen. Ich glaubte nicht, dass diese Information von Bedeutung ist.
»Was von Bedeutung und was überflüssig ist, entscheide ich.«
Er konnte weder dem Blick des Abtes noch dem Pater Alberts standhalten, als er diesen am Krankenbett besuchen musste. Darüber hinaus war Müss sicher, dass Pater Albert, als er ihm für sein lebensrettendes Eingreifen dankte, sein Geheimnis erriet.
In den nächsten Monaten wuchs Müss’ Ruhm als Arzt weiter. Als er die ersten Gelübde ablegte, hatte er schon mit Einsatzbereitschaft und Opfermut eine Lebensmittelvergiftung geheilt, von der die ganze Gemeinschaft betroffen gewesen war, und damit seinen Ruf gefestigt. Und als in einem anderen weit entfernt gelegenen Kloster Bruder Robert schwer erkrankte, fiel dem Abt von Mariawald folglich nichts Besseres ein, als Bruder Arnold Müss als Experten zu entsenden. Und damit begann die Trostlosigkeit von Neuem.
»Am Ende werde ich nicht umhin können, auf die Aussage zu verweisen, nach Auschwitz könne es keine Poesie mehr geben.«
»Wer hat das gesagt?«
»Adorno.«
»Das sehe ich auch so.«
»Ich nicht. Es gibt Poesie trotz Auschwitz.«
»Nein, ich meine … Es dürfte keine mehr geben.«
»Nein. Nach Auschwitz, nach den zahlreichen Pogromen, nach der Ausrottung der Katharer, von denen nicht einer überlebt hat, nach den Massakern, die zu allen Zeiten und überall stattgefunden haben … Die Grausamkeit ist in derGeschichte der Menschheit seit so vielen Jahrhunderten allgegenwärtig, dass es überhaupt keine Poesie geben dürfte, weil jede Poesie eine Poesie ›danach‹ ist. Trotzdem kam es anders, denn wer sonst sollte Auschwitz erklären?«
»Die, die es erlebt haben. Die, die es geschaffen haben. Die Gelehrten.«
»Ja. Das gehört auch dazu; und es gibt Museen, die daran erinnern.
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