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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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Hirtenhundbrauen waren sie doch kaum zu sehen.
    Ich erhielt einen Brief aus Oxford. Ich glaube, er gab meinem Leben eine Wende, denn er nötigte mich, wieder mit dem Schreiben anzufangen. Tatsächlich wirkte er wie ein Vitaminstoß und lieferte mir den Ansporn, die Ärmel hochzukrempeln und das Werk in Angriff zu nehmen, das endlos lang werden sollte, mir aber viel Vergnügen bereitete, unddas verfasst zu haben, mich sehr froh macht: Die Geschichte des europäischen Denkens . Es war meine Art, mir zu sagen, siehst du, Adrià?, du hast etwas geschaffen, das der Griechischen Geistesgeschichte ziemlich nahe kommt, und darfst dich fast auf Augenhöhe mit Nestle fühlen. Ohne jenen Brief hätte ich nicht die Kraft gehabt, mich an die Arbeit zu machen. Adrià hatte den Luftpostbrief neugierig beäugt und den Absender gelesen: I. Berlin, Headington House, Oxford, England, UK.
    »Sara!«
    Wo war Sara? Wie im Traum irrte Adrià durch die Zimmer und rief, Sara, Sara!, bis er vor ihrem Atelier stand und feststellte, dass die Tür zu war. Er öffnete sie. Sara skizzierte Gesichter und Gebäude auf diese frenetische Art, die sie manchmal anfallartig überkam. Sie füllte dann ein halbes Dutzend Bögen mit spontanen Entwürfen, die sie anschließend tagelang prüfte und bewertete, verwarf oder weiterentwickelte. Sie trug Kopfhörer.
    »Sara!«
    Sara wandte sich ihm zu, und als sie sah, dass er ganz aus dem Häuschen war, nahm sie die Kopfhörer ab und fragte, was ist los, was hast du? Adrià hielt den Brief hoch, und einen Moment lang dachte sie, nein, bitte nicht noch eine schlechte Nachricht.
    »Was ist passiert?«, fragte sie erschrocken.
    Bleich ließ sich Adrià auf den Hocker am Zeichentisch sinken und streckte ihr den Brief entgegen. Sie nahm ihn und fragte, von wem? Adrià bedeutete ihr, den Umschlag umzudrehen, und sie las: I. Berlin, Headington House, Oxford, England, UK. Sie blickte Adrià an und fragte, wer ist das?
    »Isaiah Berlin.«
    »Und wer ist Isaiah Berlin?«
    Adrià ging aus dem Zimmer und kehrte kurz darauf mit vier oder fünf von Berlins Büchern zurück, die er neben einem Skizzenblatt auf den Tisch stapelte.
    »Der hier«, sagte er und zeigte auf die Bücher.
    »Und was will er?«
    »Ich weiß es nicht. Warum sollte der mir schreiben?«
    Daraufhin griffst du nach meiner Hand, und wie eine Lehrerin den Angsthasen der Klasse beruhigt, sagtest du, weißt du, wie man herausfindet, was in einem Brief steht, Adrià? Du musst ihn aufmachen. Und dann lesen …
    »Aber er ist von Isaiah Berlin!«
    »Und wenn er vom Allrussischen Zar wäre. Du musst ihn aufmachen.«
    Du reichtest mir einen Brieföffner. Es war mühsam, den Umschlag sauber aufzuschlitzen, ohne ihn zu zerfetzen oder das Papier darin zu berühren.
    »Was mag er nur wollen?«, fragte ich hysterisch. Zur Antwort zeigtest du nur auf den Brief. Doch als Adrià den Umschlag geöffnet hatte, legte er ihn auf Saras Tisch.
    »Willst du ihn denn nicht lesen?«
    »Ich traue mich nicht.«
    Du griffst nach dem Umschlag, und wie ein kleines Kind nahm ich ihn dir weg und zog den Brief heraus. Ein einzelnes handbeschriebenes Blatt: Oxford, April 1987, sehr geehrter Herr, Ihr Buch hat mich zutiefst berührt, et cetera, et cetera, et cetera, und obwohl es schon eine Weile her ist, habe ich es noch immer im Kopf. Und am Schluss stand: Bitte hören Sie nicht auf zu denken, und schreiben Sie Ihre Gedanken von Zeit zu Zeit auf. Hochachtungsvoll, Isaiah Berlin.
    »Heiliger Strohsack …«
    »Gut, nicht?«
    »Aber von welchem Buch spricht er?«
    »Seine Kommentare beziehen sich auf Der ästhetische Wille «, sagte Sara, die ihm das Schreiben aus der Hand genommen hatte, um es selbst zu lesen. Du gabst mir den Brief zurück, lächeltest und sagtest, und jetzt erkläre mir erst einmal in aller Ruhe, wer dieser Isaiah Berlin ist.
    »Aber wie ist er an das Buch gekommen?«
    »Hier, nimm den Brief, und verlier ihn nicht«, sagtest du. Und seitdem verwahre ich ihn unter meinen intimsten Schätzen, auch wenn ich schon bald nicht mehr wissen werde, wosie sind. Und ja, dieser Brief half mir, zu schreiben und mich für die nächsten Jahre – neben meinen Vorlesungen, von denen ich so wenige wie möglich hielt – der Geschichte des europäischen Denkens zu widmen.

40
    Sie landeten auf einer mehr schlecht als recht asphaltierten Piste, auf der das Flugzeug so durchgerüttelt wurde, dass er fürchtete, niemals die Gepäckausgabe zu erreichen, sofern es auf dem Flughafen von Kikwit so

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