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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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etwas überhaupt gab. Um sich vor der jungen Frau mit der gelangweilten Miene auf dem Nachbarsitz keine Blöße zu geben, tat er, als läse er, während er sich im Geist die genaue Lage der Notausgänge vergegenwärtigte. Es war die dritte Maschine, die er seit seinem Abflug aus Brüssel hatte besteigen müssen, und in dieser war er bereits der einzige Weiße. Doch es störte ihn nicht, dass er auffiel, das brachte seine Arbeit nun einmal mit sich. Das Flugzeug hielt über hundert Meter von dem kleinen Gebäude entfernt. Sie mussten zu Fuß gehen und sich beeilen, damit ihre Schuhsohlen nicht an dem vor Hitze aufgeweichten Asphalt kleben blieben. Er holte die kleine Reisetasche, heuerte gegen ein saftiges Entgelt einen Taxifahrer an, der sich ihm mit seinem Geländewagen und seinen Benzinkanistern beflissen andiente, und nachdem sie drei Stunden den Kwilu entlang gefahren waren, verlangte der Taxifahrer noch mehr Dollars, weil es ab jetzt gefährlich würde. Kikongo, Sie verstehen schon. Er zahlte, ohne Einspruch zu erheben, denn in seinem Budget war alles berücksichtigt, Betrug eingeschlossen. Er wurde noch eine Stunde lang durchgeschüttelt, denn die Straße war genauso holprig wie die Landebahn, und je länger sie fuhren, desto zahlreicher, höher und dichter wurden die Bäume. Das Auto hielt vor einem halb verwitterten Schild.
    »Bebenbeleke«, sagte der Fahrer in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.
    »Wo zum Teufel ist das Krankenhaus?«
    Der Taxifahrer wies mit der Nase in Richtung Abendrot. Ein paar Holzlatten in Form eines Hauses. Es war nicht ganz so heiß wie am Flughafen.
    »Wann soll ich Sie wieder abholen?«, fragte der Taxifahrer.
    »Ich gehe zu Fuß zurück.«
    »Sie sind verrückt.«
    »Ja.«
    Er griff nach seiner Tasche und ging auf die wacklige Bretterbude zu, ohne sich von dem Taxifahrer zu verabschieden. Der spuckte auf den Boden und freute sich diebisch, denn so konnte er noch in Kikongo vorbeischauen, seine Vettern besuchen und womöglich einen Fahrgast für die Rückfahrt nach Kikwit auftreiben, dann müsste er erst in vier, fünf Tagen wieder arbeiten.
    Ohne sich umzuwenden, wartete er, bis das Motorgeräusch des Taxis verklungen war. Dann ging er zu dem einzigen Baum auf der Lichtung, einem seltsamen Baum, der gewiss einen unaussprechlichen Namen hatte, und holte eine große tarnfarbene Tasche, die an den Stamm gelehnt war, als hielte sie ein Schläfchen, und die er dort offensichtlich erwartet hatte. Damit bog er um die Ecke und sah das, was vermutlich der Haupteingang von Bebenbeleke war. Ein längliches Vordach, unter dem drei Frauen in Liegestühlen saßen und schweigend zusahen, wie die Zeit verging. Eine Tür gab es nicht. Und drinnen keine Rezeption. Ein dämmriger Korridor, beleuchtet vom flackernden Licht einer generatorbetriebenen Glühbirne. Und ein Huhn, das ins Freie flüchtete, als wäre es bei etwas Verbotenem ertappt worden. Er wandte sich an die drei Frauen auf der Veranda.
    »Doktor Müss?«
    Eine der Frauen, die älteste, wies mit einer Kopfbewegung ins Innere des Hauses. Der rechte Gang, bestätigte die jüngste, aber im Moment hat er Visite.
    Er ging hinein und nahm den rechten Gang. Kurz darauf fand er in einem verstaubten Zimmer einen alten Mann in einem makellos weißen Kittel, der einen kleinen Jungen abhorchte. Das Kind warf seiner danebenstehenden Mutter hilfesuchende Blicke zu.
    Er setzte sich auf eine grellgrüne Bank zu zwei Frauen, die sich über irgendetwas aufregten, das anscheinend die Routinevon Bebenbeleke unterbrochen hatte, und ein ums andere Mal dieselben Worte wiederholten wie eine Litanei. Er stellte die größere Tasche auf dem Boden ab, was ein metallisches Geräusch verursachte. Allmählich wurde es dunkel. Als Doktor Müss mit der letzten Patientin fertig war, hob er zum ersten Mal den Kopf und sah ihm mit aller Selbstverständlichkeit ins Gesicht.
    »Soll ich Sie auch untersuchen?«, fragte er zur Begrüßung.
    »Ich will nur die Beichte ablegen.«
    Er stellte fest, dass der Arzt nicht nur alt, sondern uralt war. Er bewegte sich wie von einer unerschöpflichen Energie getrieben, was einen falschen Eindruck vermittelte. Sein Körper war der eines Mannes in den Achtzigern. Auf dem Foto, das er von ihm gesehen hatte, war er höchstens sechzig.
    Als wäre es das Normalste von der Welt, dass ein Europäer ins Krankenhaus von Bebenbeleke kam, um zu beichten, wusch sich Doktor Müss die Hände an einem Waschbecken, das erstaunlicherweise einen

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