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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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dass meine Sünden nicht vergeben werden können, weil sie zu schwerwiegend sind. Ich habe mein Leben darauf verwendet, dafür zu büßen, wusste aber, dass ich, wenn der heutige Tag käme, immer noch ganz am Anfang stehen würde.«
    »Wenn ich mich recht erinnere, muss die Reue doch bloß stark genug sein …«
    »Hören Sie auf. Sie haben ja keine Ahnung!«
    »Ich hatte Religionsunterricht.«
    »Und was hat der Ihnen genützt?«
    »Das müssen gerade Sie sagen.«
    Wieder lächelten sie beide. Doktor Müss schob die Hand unter seinen Kittel ins Hemd. Blitzschnell beugte sich der andere über den Tisch und packte ihn beim Handgelenk. Langsam zog der Arzt ein schmutziges, gefaltetes Stück Stoff heraus. Als der Besucher sah, was es war, ließ er den Arm des Doktors los. Dieser legte den Lappen, der wohl irgendwann einmal in zwei Teile zerschnitten worden war, auf den Tisch und faltete ihn mit zeremoniellen Gesten auseinander. Das Tuch maß etwa zwei Spannen im Quadrat und ließ noch schwach das blau-weiße Karomuster erkennen. Der Gast betrachtete es gespannt. Er warf dem Doktor einen Blick zu, doch dieser hatte die Augen geschlossen. Betete er? Erinnerte er sich?
    »Wie konnten Sie tun, was Sie getan haben?«
    Doktor Müss öffnete die Augen.
    »Sie wissen doch gar nicht, was ich getan habe.«
    »Ich habe mich informiert. Sie gehörten zu einer Gruppe von Ärzten, die den hippokratischen Eid gebrochen haben.«
    »Trotz Ihres Berufs sind Sie ein gebildeter Mann.«
    »Wie Sie. Ich möchte nicht versäumen, Ihnen zu sagen, dass Sie mich anwidern.«
    »Ich verdiene Verachtung.« Er schloss die Augen und sagte, als rezitierte er: »Ich habe mich versündigt gegen die Menschen und gegen Gott. Im Namen einer Idee.«
    »Glaubten Sie daran?«
    »Ja. Confiteor.«
    »Und Empfindungen wie Erbarmen und Mitleid?«
    »Haben Sie Kinder getötet?« Doktor Müss sah ihm in die Augen.
    »Ich darf Sie daran erinnern, dass ich derjenige bin, der hier die Fragen stellt.«
    »Verstehe. Dann wissen Sie also, wie es sich anfühlt.«
    »Ein Kind weinen zu sehen, während man ihm bei lebendigem Leib die Haut vom Arm reißt, um die Auswirkungen von Infektionen zu studieren … und kein Mitleid dabei zu empfinden?«
    »Ich war kein Mensch, Pater«, gestand Doktor Müss.
    »Wenn Sie kein Mensch sind, wie können Sie dann bereuen?«
    »Ich weiß es nicht, Pater. Mea maxima culpa.«
    »Keiner Ihrer Kollegen hat Reue gezeigt, Herr Doktor Budden.«
    »Weil sie wissen, dass man für eine so ungeheure Sünde nicht auf Vergebung hoffen kann, Pater.«
    »Einige haben Selbstmord begangen, und andere sind geflohen wie Ratten und haben sich versteckt.«
    »Ich maße mir nicht an, über sie zu richten. Ich bin einer von ihnen, Pater.«
    »Aber Sie sind der Einzige, der das Böse wiedergutmachen will.«
    »Keine vorschnellen Urteile. Ich muss keineswegs der Einzige sein.«
    »Ich bin umfassend informiert. Was übrigens Aribert Voigt angeht …«
    Trotz seiner Selbstbeherrschung konnte Doktor Müss nicht verhindern, dass es ihn bei der Erwähnung dieses Namens von Kopf bis Fuß durchfuhr.
    »Wir haben ihn geschnappt.«
    »Geschieht ihm recht. Und möge Gott mir verzeihen, Pater, denn mir geschieht es genauso recht.«
    »Wir haben ihn bestraft.«
    »Ich kann dazu nichts sagen. Es ist alles zu ungeheuerlich. Die Schuld greift zu tief.«
    »Wir haben ihn schon vor Jahren erwischt. Freut Sie das nicht?«
    »Non sum dignus.«
    »Er hat geweint und um Gnade gefleht. Und er hat sich in die Hosen gemacht.«
    »Ich werde nicht um Voigt weinen, kann mich über das, was Sie mir da sagen, aber auch nicht freuen.«
    Der Besucher sah den Doktor eine Weile unverwandt an.
    »Ich bin Jude«, sagte er schließlich. »Ich erledige Aufträge, aber ich tue es gern. Verstehen Sie?«
    »Vollkommen, Pater.«
    »Wissen Sie, im Grunde glaube ich …«
    Konrad Budden riss erschrocken die Augen auf, als fürchtete er, sich wieder dem greisen Kartäuser gegenüber zu sehen, der starr auf einen Riss im Holz des eisigen Beichtstuhls blickte. Doch dieser Elm, der mit seinem von vielen Geschichten gezeichneten Gesicht vor ihm saß, betrachtete keinen Riss. Er sah ihm direkt in die Augen. Müss erwiderte seinen Blick.
    »Ja, ich weiß, was Sie glauben, Pater: dass mir kein Platz im Paradies zusteht.«
    Der andere sah ihn schweigend an, ohne sich seine Überraschung anmerken zu lassen. Konrad Budden fuhr fort:
    »Und Sie haben recht. Meine Sünde ist so schändlich, dass die wahre Hölle die

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