Das Schweigen des Sammlers
ist, zu der ich mich selbst verdammt habe, indem ich mir meine Schuld eingestehe und damit weiterlebe.«
»Das kann ich nicht nachvollziehen.«
»Das ist auch gar nicht meine Absicht. Ich verschanze mich weder hinter der Idee, die uns damals leitete, noch hinter der Kaltherzigkeit, mit der wir uns die Hölle, die wir anderen bereiteten, erträglicher machten. Ich erwarte von niemandem Vergebung. Nicht einmal von Gott. Ich habe nur um eine Chance gebeten, dem Grauen etwas entgegenzusetzen.«
Er bedeckte das Gesicht mit den Händen und sagte, doleo, mea culpa. Tag für Tag durchleide ich das Gleiche mit der gleichen Intensität.
Schweigen. Allmählich bemächtigte sich eine sanfte Stille des ganzen Krankenhauses. Der Fremde glaubte, von fern die gedämpften Geräusche eines Fernsehapparats zu hören. Doktor Müss senkte die Stimme, bemüht, seine Erregung zu verbergen.
»Halten Sie es geheim, oder werden nach meinem Tod alle erfahren, wer ich bin?«
»Mein Auftraggeber will, dass es geheim bleibt. Er zahlt, also hat er das Sagen.«
Schweigen. Ja, ein Fernseher. Es klang sonderbar an diesem Ort. Der Gast lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
»Sie wollen also nicht wissen, wer mich schickt?«
»Nicht nötig. Sie sind im Namen aller hier.«
Mit sachter Geste, ein wenig feierlich, legte Müss die Hände flach auf den schmutzigen Lappen.
»Was ist das für ein Lappen?«, fragte der andere. »Eine Serviette?«
»Auch ich habe meine Geheimnisse.«
Der Doktor ließ die Hände auf dem Lappen und sagte, wenn es Ihnen recht ist, ich wäre dann so weit.
»Würden Sie freundlicherweise den Mund aufmachen …«
Konrad Budden schloss ergeben die Augen und sagte, wann immer Sie wollen, Pater. Vor dem Fenster hörte man das aufgebrachte Gackern eines Huhns, das sich gleich zur Nachtruhe begeben würde. Und weiter weg Gelächter und Beifall aus dem Fernseher. Dann öffnete Eugen Müss, Bruder Arnold Müss, Doktor Konrad Budden den Mund, um das Letzte Abendmahl zu empfangen. Er hörte, wie der Reißverschluss der Tasche energisch aufgezogen wurde. Er hörte ein metallisches Klicken, das ihn in eine weitere Hölle stürzte, und verstand es als zusätzliche Buße. Sein Mund blieb offen. Den Schuss hörte er nicht mehr, dafür war die Kugel zu schnell.
Der Besucher steckte die Pistole in den Gürtel und nahm eine Kalaschnikow aus der Tasche. Bevor er den Raum verließ, faltete er den Lappen, der dem Doktor so heilig gewesen war, sorgfältig zusammen, als wäre er auch ihm heilig, und steckte ihn ein. Das Opfer saß noch aufrecht auf dem Stuhl, mit zertrümmertem Kiefer, aber fast ohne zu bluten. Nicht einmal der weiße Kittel hatte einen Fleck. Zu alt, um noch Blut zum Vergießen zu haben, dachte er, während er das Maschinengewehr entsicherte und sich anschickte, seine Tat zu vertuschen. Er lauschte, woher die Fernsehgeräusche kamen. Er wusste, dass dies die Richtung war, in die er gehen musste. Der Mord an dem Arzt durfte keinesfalls bekannt werden, und um das zu gewährleisten, war er entschlossen, mit dem Rest umso mehr Aufsehen zu erregen. Das gehört in diesem Beruf nun einmal dazu.
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Alles, was ich Ihnen hier erzähle, liebe Freunde und Kollegen, geschah vor der Geschichte des europäischen Denkens . Wer sachliche Informationen über unseren Mann haben will, kann sich vor allem zweier Quellen bedienen, der Gran Enciclopèdia Catalana und der Encyclopaedia Britannica . Letztere hatte ich greifbarer, und darin heißt es in der fünfzehnten Auflage:
Adrià Ardèvol i Bosch (Barcelona, 1946). Professor für ästhetische Theorie und Ideengeschichte, Promotion 1976 in Tübingen und Verfasser von Die französische Revolution (1978), einem Plädoyer gegen die gewaltsame Durchsetzung eines Ideals, in dem er die historische Legitimität von Persönlichkeiten wie Marat, Robespierre und selbst Napoleon in Zweifel zieht und diese in intellektueller Filigranarbeit mit den großen Schlächtern des zwanzigsten Jahrhunderts wie Stalin, Hitler, Franco oder Pinochet vergleicht. In Wahrheit war dem jungen Professor Ardèvol die Geschichte seinerzeit von Herzen gleichgültig. Als er das Buch schrieb, hatte er das wortlose Verschwinden seiner Sara ↑Voltes-Epstein (Paris, 1950 - Barcelona, 1996) noch immer nicht verkraftet, obwohl dieses nun schon einige Jahre her war, und fand, die Welt und das Leben stünden in seiner Schuld. Und er war nicht in der Lage, offen mit seinem guten Freund Bernat ↑Plensa i Punsoda (Barcelona, 1945) zu
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