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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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antwortete: »Ehrwürdiger Kadi, ein Mann, den ich nicht kenne, kam in mein Haus.«
    »Mit einem Korb Datteln.«
    »Ja.«
    »Die er dir verkaufen wollte.«
    »Ja.«
    »Und warum hast du sie ihm nicht abgekauft?«
    »Dazu habe ich nicht die Erlaubnis meines Vaters.«
    »Wer ist dein Vater?«
    »Azizzadeh Alfalati, der Händler. Und außerdem habe ich gar kein Geld, um etwas zu kaufen.«
    »Wo ist dein Vater?«
    »Er wurde gezwungen, mich aus dem Haus zu jagen und mich nicht zu beweinen.«
    »Warum?«
    »Weil ich entehrt wurde.«
    »Und das sagst du so gelassen?«
    »Ehrwürdiger Kadi, Ihr habt gesagt, wenn ich lüge, wird es mich das Leben kosten.«
    »Wie wurdest du entehrt?«
    »Ich wurde vergewaltigt.«
    »Von wem?«
    »Von dem Mann, der mir die Datteln verkaufen wollte. Ali Bahr heißt er.«
    »Und warum hat er das getan?«
    »Das müsst Ihr ihn fragen. Ich weiß es nicht.«
    »Willst du mir etwa Anweisungen erteilen?«
    »Verzeiht, ehrwürdiger Kadi«, sagte sie und senkte den Kopf noch tiefer. »Aber ich kann nicht wissen, warum er es getan hat.«
    »Hast du ihm schöne Augen gemacht?«
    »Nein. Niemals! Ich bin ein anständiges Mädchen.«
    Schweigen. Der Kadi beobachtete sie aufmerksam. Zuletzt hob sie den Kopf und sagte, jetzt weiß ich es: Weil er mir ein Schmuckstück stehlen wollte.
    »Was für eins?«
    »Einen Anhänger.«
    »Zeig ihn mir.«
    »Das geht nicht. Er hat ihn mir gestohlen. Und dann hat er mich vergewaltigt.«
    Als Ali Bahr zum zweiten Mal hereingerufen wurde, wartete der gütige Kadi geduldig, bis die Frau abgeführt worden war. Nachdem die Zwillinge die Tür geschlossen hatten, fragte er leise, was ist das für ein Anhänger, den du gestohlen hast, Ali Bahr?
    »Einen Anhänger? Ich?«
    »Hast du Amani nicht einen Anhänger weggenommen?«
    »So eine Lügnerin!« Er hob die Arme. »Durchsucht mich, Herr.«
    »Es ist also eine Lüge.«
    »Eine dreckige Lüge. Sie hatte kein Schmuckstück, sondern einen Spieß, den sie einem in den Leib rammt, wenn man in ihrem Haus das Gespräch unterbricht, um Zuhr zu beten, oder Asr, genau weiß ich es nicht mehr.«
    »Wo ist der Spieß?«
    Ali Bahr zog den Spieß zwischen den Falten seines Gewandes hervor und bot ihn dem Kadi auf den ausgestreckten Händen dar wie eine Opfergabe.
    »Damit hat sie mich angegriffen, gütiger Richter.«
    Der Kadi nahm den Spieß, einen von der Sorte, auf die man Lammfleischstückchen steckt, betrachtete ihn von allen Seiten und schickte Ali Bahr mit einer Kopfbewegung hinaus. Gedankenversunken wartete er, bis die Zwillinge die Mörderin Amani wieder vorgeführt hatten. Er zeigte ihr den Spieß.
    »Gehört der dir?«, fragte er.
    »Ja! Wo habt Ihr den her?«
    »Gibst du zu, dass er dir gehört?«
    »Ja. Ich musste mich ja verteidigen gegen den Mann, der …«
    Der Kadi wandte sich an die Zwillinge, die an der hinteren Wand lehnten. »Schafft dieses Aas weg«, sagte er, ohne die Stimme zu erheben, ermattet von der Schlechtigkeit der Welt, die er ertragen musste.
    Dem Händler Azizzadeh Alfalati wurde unter Strafandrohung untersagt, auch nur eine Träne zu vergießen, denn um eine gesteinigte Frau zu weinen, ist eine Sünde, die den Allmächtigen beleidigt. Und er durfte auch keinerlei Trauer zeigen, gepriesen sei der Barmherzige. Nicht einmal Abschied konnte er von ihr nehmen, denn als rechtschaffener Mann hatte er sie verstoßen müssen, als er erfuhr, dass sie sich hatte vergewaltigen lassen. Azizzadeh schloss sich in seinem Haus ein, und niemand wusste, ob er weinte oder mit seiner vor Jahren verstorbenen Gattin sprach.
    Und endlich flog der erste Stein – nicht zu klein, nicht zu groß, begleitet von einem wütenden Schnauben, weil ihn beim Werfen der mörderische Stich am Bauch wieder schmerzte – und traf die linke Wange der Hure Amani, während diese immerzu schrie, Ali Bahr hat mich vergewaltigt und beraubt. Vater! Mein Vater! Lut, tu mir nicht weh, du und ich, wir sind doch … Hilfe! Erbarmt sich denn niemand? Doch der Stein ihres Freundes Lut traf sie an der Schläfe, sodass sie halb benommen war, und sie steckte in dem Loch und konnte keine Hand rühren, um sich zu verteidigen. Und Lut war stolz, so gut zielen zu können wie Drago Gradnik. Dann begann es, Steine zu regnen, nicht zu groß, nicht zu klein, und die kamen jetzt aus den Händen der zwölf Freiwilligen, und Amanis Gesicht färbte sich rot wie die Lippen mancher Dirnen, die mit Schminke versuchten, die Männer auf sich aufmerksam zu machen und sie vom

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