Das Schweigen des Sammlers
diesen vier Wänden. Adrià, in seinem Arbeitszimmer, blickte zur Decke, um besser zuhören zu können. Bernat, im Gästezimmer, erfüllte die Luft mit den Sonaten von Enescu. Und am Abend bat er mich um die Storioni und brachte sie zwanzig oder dreißig köstliche Minuten lang zum Schluchzen. Er spielte ein paarSonaten von Tonton Leclair, diesmal als Solo. Sekundenlang verspürte ich den Impuls, ihm Vial zu schenken. Er hätte wirklich etwas davon. Doch ich hielt mich rechtzeitig zurück.
Ich weiß nicht, ob die Musik geholfen hatte. Jedenfalls saßen wir nach dem Essen alle drei noch eine gute Weile beisammen und unterhielten uns. Ausnahmsweise sprach Sara sogar über ihren Onkel Chaim, und dieses Thema führte uns zur Banalität des Bösen, denn ich hatte vor kurzem begierig Hannah Arendt gelesen und wälzte seither Probleme, für die ich keine Lösung fand.
»Warum beschäftigt dich das?«, fragte Bernat.
»Wenn das Böse ungeahndet bleiben kann, sind wir verratzt.«
»Ich verstehe nicht, was du meinst.«
»Wenn ich einfach so etwas Böses tun kann, und mir passiert nichts, dann hat die Menschheit keine Zukunft.«
»Du meinst Verbrechen aus reiner Willkür.«
»Ein Verbrechen aus Willkür ist das Unmenschlichste, was man sich nur denken kann. Ich sehe einen Mann, der auf den Bus wartet, und bringe ihn um. Grauenhaft.«
»Rechtfertigt Hass ein Verbrechen?«
»Nein, aber er erklärt es. Ein Verbrechen aus reiner Willkür ist nicht nur grauenhaft, sondern auch unerklärlich.«
»Und ein Verbrechen im Namen Gottes?«, mischte sich Sara ein.
»Ist auch ein Verbrechen aus Willkür, hat aber subjektiv ein Alibi.«
»Und im Namen der Freiheit? Oder des Fortschritts? Oder der Zukunft?«
»Ob im Namen Gottes oder im Namen der Zukunft gemordet wird, kommt auf dasselbe heraus. Wenn das Motiv ideologisch ist, verschwinden Empathie und Erbarmen. Man tötet kaltblütig, ohne Gewissensbisse. Wie ein Psychopath.«
Sie schwiegen eine Weile. Ohne sich anzusehen, vollkommen in ihr Gespräch vertieft.
»Es gibt Dinge, die ich mir nicht erklären kann«, sagte Adrià düster. »Grausamkeit. Die Rechtfertigung der Grausamkeit. Dinge, die ich mir nicht erklären kann außer in literarischer Form.«
»Warum probierst du es nicht?«, fragtest du und durchbohrtest mich mit deinem Blick, den ich noch heute spüre.
»Ich kann nicht schreiben. Das ist Bernats Sache.«
»Fang jetzt nicht an zu frotzeln, ich bin nicht in der Verfassung.«
Das Gespräch versiegte, und wir legten uns schlafen. Ich erinnere mich, Liebste, dass ich in dieser Nacht den Entschluss fasste. Eine schlaflose Stunde später stand ich leise auf und ging wieder ins Arbeitszimmer. Ich griff zu Papier und Feder und fing an, indem ich sehr weit ausholte, um mich später allmählich bis zu uns vorzutasten, und schrieb, die Steine dürfen nicht zu klein sein, weil sie dann harmlos sind. Aber sie dürfen auch nicht zu groß sein, weil sie die Qualen des Schuldigen dann zu sehr verkürzen. Denn hier geht es um die Bestrafung von Schuldigen, das sollten wir nie vergessen. Alle die ehrbaren Männer, die eifrig den Finger heben, weil sie an einer Steinigung teilnehmen wollen, müssen wissen, dass Schuld durch Schmerz gesühnt werden muss. So ist es. So war es immer. Wer also diese Ehebrecherin verwundet, ihr ein Auge ausschlägt und sich von ihrem Heulen nicht rühren lässt, ist dem Höchsten, Einzigen, Barmherzigen, Gnädigen Gott wohlgefällig.
Ali Bahr war kein Freiwilliger. Er war der Kläger und hatte somit das Privileg, den ersten Stein zu werfen. Die sittenlose Amani war eingegraben bis zum Hals, sodass nur ihr unzüchtiges, jetzt tränenüberströmtes Gesicht zu sehen war, und bettelte schon zu lange, lasst mich leben, Ali Bahr hat euch belogen. Und Ali Bahr, dem die Worte der Verurteilten Unbehagen bereiteten, trat ungeduldig vor, und auf das Zeichen des Kadis warf er den ersten Stein, um dieser Hure ein für allemal das bbeschissene Maul zu stopfen, gelobt sei Gott, der Allmächtige. Doch der Stein, der die Dirne zum Schweigen bringen sollte, bewegte sich viel zu langsam, wie Ali Bahr, als er unter dem Vorwand, einen Korb Datteln verkaufen zu wollen, in Amanis Haus gekommen war und sie ihr Gesicht mitdem Küchentuch bedeckt hatte, das sie gerade in der Hand hielt, und gesagt hatte, was wollt Ihr hier, wer seid Ihr?
»Ich komme, um dem Händler Azizzadeh Alfalati diese Datteln zu verkaufen.«
»Er ist nicht da, er kommt erst am Abend zurück.«
Diese
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